Erklärt werden sollte: Welche Kräfte bringen die Differenz von Tunte und Kerl hervor? Wie kommt das Tuntige in die schwule Subkultur? Warum, wenn es schon für unattraktiv gehalten wird, wird nicht darauf verzichtet? Warum, wenn es doch um Männer geht, die Männer begehren, interessiert sich überhaupt jemand für Weiblichkeit? Warum ist der Gegensatz der Geschlechter in einer eingeschlechtlichen Subkultur von Bedeutung? Warum werden Kontraste entgegen des gesamtgesellschaftlichen Trends noch überzeichnet? Warum werden Weiblichkeit, Männlichkeit und Verwandlung in Rollenspielen behandelt?
Andere Forscher würden an dieser Stelle vermutlich völlig andere Fragen stellen, und sicherlich gäbe es jede Menge davon. Für mich jedoch sind dies die zentralen Rätsel, die sich nach Ende der empirischen Erhebung und der Auswertung stellten. Damit ist eigentlich auch schon klar, daß ich nicht hoffe, die Antworten aus dem empirischen Material selbst gewinnen zu können. Es geht im folgenden daher auch nicht um eine theoretische Diskussion dieses Materials, sondern um die Fragen, die es aufwirft.
Antworten sind in der mir bekannten Literatur dünn gesäht, und auf eine ausführliche Präsentation aller auch nur irgendwie mit der Sache befassten Theorien will ich hier verzichten. Grob gesprochen gibt es zwei Richtungen: essentialistische Ansätze, die primär auf die Eigenschaften des Individuums rekurrieren und diese unter dem Gesichtspunkt eines irgendwie gewachsenen Seins mit biologischen oder psychologischen Theorien erklären, und konstruktivistische Ansätze, die jedwedes menschliche Sein in seiner Kulturgebundenheit betrachten und folglich eher die gesellschaftlichen Zusammenhänge in den Mittelpunkt stellen (Haumann 1992).
Ein gutes Beispiel für den erstgenannten Ansatz ist Richard Friedman (1986), der Homosexualität auf eine Störung der Geschlechtsidentität in der Kindheit zurückführt. Diese Störung, die er in drei Schweregrade gliedert, äußert sich unter anderem in effeminiertem Verhalten, Faszination für weibliche Heldinnen, einer Vorliebe für mädchenhaftes Spielzeug, und generell in einer wenig männlichen Selbstwahrnehmung. Zur Ursachenfrage diskutiert Friedman psychobiologische Theorien wie etwa Dörners These einer unangemessenen pränatalen Androgenisierung des Zentralnervensystems. Wie auch immer, die Homosexualität resultiert für Friedman aus einer Störung der Geschlechtsidentität in der Kindheit. Während die Störung selbst in vielen Fällen beim Erwachsenen abklingt, bleibt die Homosexualität erhalten. So erklärt sich für Friedman der Umstand, daß nur ein Teil erwachsener homosexueller Männer effeminiertes Verhalten an den Tag legt.
Zur homosexuellen Subkultur nimmt Friedman nicht ausdrücklich Stellung, doch wäre es nicht weiter schwierig, diesen Faden selbst zu spinnen. Je nachdem, wie sehr die Störung der Geschlechtsidentität abgeklungen ist, hätten wir mehr oder weniger effeminierte Homosexuelle, diese wären also unsere Tunten (Störung nicht abgeklungen) oder Kerle (Störung gut abgeklungen). Das würde sogar gut mit der schwulen Alltagstheorie harmonieren, die ja auch so ein Kontinuum kennt und die Zweifel teilt, ob schwule Männer jemals ganz männlich sein können. Trotzdem befriedigt diese Erklärung in einigen Punkten nicht. Der Begriff der Störung ist schlicht unakzeptabel. Nicht nur wegen der darin enthaltenen Abwertung, sondern weil er ein medizinisches Pathologie-Konzept völlig unangemessen auf einen sozialen Gegenstand überträgt. Was Friedman zum Angelpunkt seiner Überlegungen macht, ist der Umstand, daß Knaben, die im späteren Leben homosexuell werden, sich weniger als andere Altersgenossen mit Aspekten der männlichen Geschlechtsrolle anfreunden können, beispielsweise mit Aggression, wie sie in männlichen Kampfspielen geübt wird, und stattdessen lieber mit Mädchen spielen. Dieser Zusammenhang, den Friedman aus empirischem Material einigermaßen glaubhaft macht, ist interessant und wertvoll, doch hilft es dem Verständnis nicht weiter, ihn als Störung zu bezeichnen. Damit ist keine Erklärung gewonnen. Und die Antwort auf die Frage, wie es denn nun vor sich geht, daß die kindliche Selbstwahrnehmung in der Geschlechtsrolle die sexuelle Orientierung steuert, bleibt Friedman schuldig, ohne daß ihm selbst dieser Mangel überhaupt auffällt.
Nun zu einem anderen Ansatz und zu einem anderen Erklärungsversuch. Gisela Bleibtreu-Ehrenberg (1981) behandelt in ihrer gründlichen historischen Aufarbeitung antihomosexueller Vorurteile das Phänomen der heutigen Tunte unter dem Gesichtspunkt der Self-fulfilling-prophecy. Im Zuge der Säkularisierung des Vorurteils während und nach der Aufklärung entwickelten die seinerzeitigen Wissenschaftler die Auffassung, Homosexualität sei eine Geisteskrankheit, gekennzeichnet durch Merkmale der Verweiblichung - dies deshalb, da nach den strikt stereotypen Geschlechterbildern jener Zeit eine andere Erklärung für das sexuelle Begehren eines Mannes nach einem Mann nicht denkbar schien. Die Verbreitung dieser Theorien in Laienkreisen trägt, so Bleibtreu-Ehrenberg, bis heute Wirkung, nicht zuletzt auf die Betroffenen selbst, die sich diesen Vorstellungen anpassen, um die diskriminierende Majorität zu besänftigen, und daraus ihr Selbstbild beziehen, an dem sie festhalten wollen, auch wenn es wenig schmeichelhaft für sie ist. Ähnliche Vermutungen stellt Lautmann (1984) an, der zur Erklärung der Tunte neben einem Protest gegen den übersteigerten Maskulinismus eine aus der Vorurteilsforschung bekannte Form der Clownerie in Betracht zieht, mit der eine diskriminierte Minderheit der Gesellschaft die erwarteten Eigenschaften grotesk vorspielt. Pollak (1984) vermutet in einem ähnlichen Sinn ein Stück Ironie in der schwulen Selbstdarstellung.
Zumindest der eine Teil der Erklärung, der das Tuntige als eine Form der Verständigung mit der heterosexuellen Majorität verstehen will - sei es nun als Besänftigung, Clownerie oder selbstironische Darbietung - wirkt gegenüber dem vorliegenden Untersuchungsmaterial schwer nachvollziehbar, denn hier handelt es sich ausschließlich um Vorgänge innerhalb der Subkultur, nicht um eine Inszenierung vor den Augen heterosexueller Beobachter. Den zweiten Teil der Erklärung, das Selbstbild betreffend, könnte man ausbauen. Es wäre durchaus denkbar, daß die komplimentäre Logik, die den ersten Theoretikern der Homosexualität zur Einsicht verholfen hat, daß das sexuelle Begehren nach Männlichkeit nur mit Weiblichkeit zu erklären sei, heute nach wie vor wirksam ist und in jedem Homosexuellen die Vermutung nährt, mit seinem Verlangen nicht vollständig männlich - und folglich weiblich zu sein. Es wäre also die gesellschaftlich vorgezeichnete Komplementarität von Mann und Frau, die den männlichen Homosexuellen in ein weibliches Wesen verwandelt. Als prägende Ausrichtung des Selbstbildes könnte die gesellschaftlich dominante Konstellation schon sehr früh wirksam werden. So vermutet Isay (1990), daß Knaben, die in einem frühen Alter eine erotische Zuneigung zum Vater entwickeln, aufgrund der Beobachtung der elterlichen Beziehung Züge der Mutter annehmen, um dem Vater zu gefallen - gewissermaßen eine Umkehrung der Konzeption Friedmans.
Eine Erklärung, die sich in dieser Richtung entwickelt, könnte richtig gut werden, und gesellschaftliche Bedingungen wie auch Vorgänge der psychosexuellen Entwicklung in plausibler Art und Weise zusammenfügen, um zu erklären, wie das Tuntige in die schwule Subkultur kommt. Warum ich dennoch keinen Versuch unternehme, diese Richtung zu beschreiten, liegt daran, daß ich dieses Tuntige als einen Ausdruck der Lust interpretiere, die sich aller Oppertunitätsabwägungen zum Trotz in der schwulen Subkultur ihren Durchbruch verschafft. Äußere soziale Zwänge schließe ich aufgrund der Beobachtungen aus, niemandem wird die Stategie "Tunte" aufgedrängt - eher im Gegenteil. Für die Vermutung eines inneren Zwanges fehlt mir eine überzeugende theoretische Grundlage, und dazu paßt auch kaum der spielerische Umgang. Zumindest zwischen Personen, die in einer freundschaftlichen Beziehung stehen, erwecken die gegenseitigen Zuschreibungen von Weiblichkeit eher den Anschein, als handle es sich um scherzhafte Anspielungen auf ein heimliches Laster - ein Laster, das unter diesen Umständen weder sonderlich heimlich noch lasterhaft sein kann. Mit Geschlechtsidentität mag die Sache wohl etwas zu tun zu haben, doch selbst wenn man in Betracht zieht, daß keiner der Teilnehmer im Beobachtungsfeld Unzufriedenheit mit seiner Geschlechtszuordnung äußert, und keiner von Problemen mit den alltäglichen Erfordernissen der männlichen Geschlechtsrolle berichtet, bliebe immer noch die Frage, was einem Mann an einer weiblichen Identität Lust bereitet. Und dann ist da noch dieses beeindruckende, der Tunte zugeschriebene Lustpotential in den Bildern von Tunte und Kerl. Diese Lust entnimmt sich nicht der Komplementarität, denn das männliche Gegenüber kann notfalls durch Gegenstände substituiert werden, und sie kann wohl auch kaum von verinnerlichten Vorurteilen herrühren, und eine Störung der Geschlechtsidentität läßt sich auch nur schwer als lustvoll denken, da in diesem Fall die Nicht-Störung nur als Bürde zu tragen wäre. Es muß sich hier um eine durchaus eigenständige Lust an der Weiblichkeit handeln, und eine Erklärung, der es nicht gelingt, diese Lust begreiflich zu machen, liegt in meinen Augen daneben.
Sexuelle Phantasien und Sehnsüchte, wie auch ihre Erfüllung in Begegnungen und Handlungen, sind bei den meisten Menschen an die Kategorien des Geschlechtes gebunden. Viele haben erotische Idealvorstellungen wie einen "Traum-Mann" oder eine "Traum-Frau", wenige - wenn überhaupt welche - haben einen "Traum-Menschen", dessen Geschlecht belanglos wäre. Ferner bestehen diese erotischen Idealvorstellungen nicht nur aus Körpern, sondern sie weisen Wesenszüge auf. Erkennbar ist dies etwa an dem Phänomen, daß die Tunte vielen Schwulen als unattraktiv gilt, ohne daß dies am Körper liegen könnte. Nicht nur der Geschlechtskörper, auch die Geschlechtsrolle und ihre innerliche Inbesitznahme ist von erotischer Relevanz. All dies gilt nun nicht nur für das phantasierte oder reale Gegenüber einer sexuellen Begegnung, sondern auch für das Subjekt, das ebenfalls nicht geschlechtslos gedacht werden kann und das auch eine erotisch relevanten Rolle einnimmt.
Bis hierher wird es vermutlich wenig Einwände geben. Die Weiterführung der Überlegungen wird nun spekulativ, angreifbar und vielleicht deplaziert wirken, doch im Gegensatz zu Friedman erscheint mir der Zusammenhang zwischen Geschlechtsrolle und Begehren zu spannend, wichtig und aufklärungsbedürftig, als daß ich ihn mit dem lapidaren Hinweis auf unbekannte Gründe abtun möchte (1986 S. 285). Wir brauchen eine Theorie, wie die soziale Ordnung der Geschlechter Eingang in das sexuelle Erleben findet, durch welche Vorgänge das Geschlecht zu der erotisch relevanten Kategorie schlechthin wird, und was genau vor sich geht, wenn Menschen Lust an Männlichkeit und Weiblichkeit empfinden.
Anstelle von "Traum-Mann" und "Traum-Frau" verwende ich den Begriff der erotischen Idole, und meine damit nicht das an die Wand geheftete Bild eines Models, sondern ein psychogenetisch sehr altes, kaum bewußtseinsfähiges, mit Trieben verknüpftes Vorstellungsgebilde. Es verknüpft Figuren, Szenen, Wünsche und sexuelle Erregung. Die Möglichkeit der Existenz solcher Strukturen entnehme ich Schellenbaum (1980), der jedoch mit anderen Begriffen und einem anderen theoretischen Hintergrund arbeitet, sodaß ich seine Annahmen bezüglich ihrer Herkunft nicht übernehmen kann. Die folgenden Überlegungen sind daher improvisiert. Ausgangspunkt ist für mich Freund: die infantile Sexualität, die bisexuelle Anlage, und die Triebe, die sich durch Verknüpfung mit Gefühlen und Vorstellungen im Bewußtsein repräsentieren (Freud 1997, Freud 1988, Nagara 1978).
Erotische Idole haben ihren Ursprung in einer Zeit, in der das Kind von sexuellen Impulsen überschwemmt wird, die es nicht umsetzen kann, entweder weil die Umsetzung schlicht außerhalb seiner Möglichkeiten liegt oder inakzeptabel, verboten, gefährlich wirkt. Zugleich entwickelt das Kind ein Bewußtsein von sich und seiner Umgebung, das beinhaltet, daß es nicht immer ein Kind bleiben, sondern ein Mann oder eine Frau werden wird, und es erfährt von den Lustmöglichkeiten, die erwachsene Männer und Frauen haben. Die These von der bisexuellen Anlage besagt, daß es keine spezifisch männlichen oder weiblichen Triebe gibt. Beide Geschlechter haben gleichermaßen aktive wie passive, orale, anale und genitale, zärtlichen und aggressive Wünsche. Die Unterscheidung ergibt sich erst mit der Kenntnis des eigenen Geschlechts und dem Wissen über dessen potentielle Möglichkeiten. Dabei fließen unweigerlich auch die gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse ein, die das Kind anhand seiner Bezugspersonen erfährt.
Das erotische Idol selbst ist eine phantasierte, beobachtete oder gemutmaßte Vorstellung. Sie handelt von einer Gestalt und ihren Aktionen und ihrem inneren Wesen, das von Impuls und Lust, von Trieb erfüllt ist. Gemeinsam ist diesen Vorstellungen, daß ihnen das Potential zugeschrieben werden kann, triebhafte Bestrebungen zu verwirklichen, deren unmittelbare Umsetzung der kindlichen Existenz - aus welchen Gründen auch immer - verwehrt sind. Vorstellungen liefern Eltern, ältere Geschwister, Jugendliche aus der Umgebung, Märchen, Fernsehen, sowie Phantasien über Auslassungen, Wegblenden, verschlossene Zimmertüren und die dahinter gehüteten Geheimisse. Die Vorstellungen kanalisieren und binden Triebe in Form eines Potentials, das auf Verwirklichung wartet. Es gibt nicht ein Idol, sondern derer viele, die sich zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Trieben und Vorstellungen verknüpfen. Maßgebliche Differenzen sind Liebe und Aggression, Dominanz und Unterwerfung, Aktivität und Passivität und die Unterscheidung zwischen dem Eigenem und dem Anderen, dem Möglichen und dem Unmöglichen, und zu ordnen sind die eigenen inneren Antriebe. Die kindliche Psyche hat hier viel Integrationsarbeit zu leisten, die ich mangels tiefenpsychologischer Kompetenz nicht nachzeichnen kann. Es ist nur eine Vermutung, daß diese Vielfalt sich nach gesellschaftlich dominanten Vorgaben ausdifferenziert, nämlich erstens in die Unterscheidung der Geschlechter, die vom Standpunkt des Kindes mit der Frage des Möglichen und Unmöglichen verknüpft ist, und zweitens in die Unterscheidung zwischen dem sozial Erwünschten und Unerwünschten, die für das Kind akzeptable und inakzeptable Wünsche abgrenzt. Darstellen läßt sich dies als zweidimensionale Matrix, zur Illustration unterlegt mit landläufigen Vorstellungen in diesen Belangen, sowie mit Grafiken, die der Schriftart "Batman" von Ronald S. entnommen sind.
Idole | männlich | weiblich |
hell | helles männliches Idol stark, überlegen, tüchtig, tapfer |
helles weibliches Idol schön, zärtlich, sauber, glamourös |
dunkel | dunkels männliches Idol schmutzig, roh, triebhaft, brutal |
dunkles weibliches Idol lasziv, lüstern, verdorben, hemmungslos |
Wenn etwas eine derartige Gliederung plausibel scheinen lassen kann, dann am ehesten der Umstand, daß sich hier gewisse Grundtypen erotischer Faszination wiedererkennen lassen, die in unserer Kultur die Phantasie anregen: Held und Finsterling, Jungfrau und Hure. Eine solche Ordnung muß jedoch nicht zwingend gedacht werden. Es kann Idole geben, die weder geschlechtlich noch in Hinblick auf ihre Bewertung definiert sind, sondern sich lediglich als psychische Manifestation eines - warum auch immer - gegenwärtig unerfüllbaren Wunsches einprägen. Es handelt sich um sehr individuelle Kompositionen, in denen ein ganz spezifischer erotischer Reiz verarbeitet wird, und jeder Versuch, diesen Reizen und ihren Bildern eine Ordnung zu hinterlegen, ist willkürlich. Die hier zugrunde gelegte Annahme lautet lediglich, daß die kindlichen Vorstellungen über die Möglichkeiten der Triebumsetzung seiner kindlichen Weltsicht entspringen, und daß diese Weltsicht wesentlich von gesellschaftlich relevanten Ordnungskriterien geprägt ist. Daher läßt sich vermuten, daß die Figuren in den kindlichen Bilder der Lust in der Regel ein Geschlecht aufweisen, und ferner hinsichtlich ihrer Verwerflichkeit charakterisiert sind.
In der Zeit der Latenz verlieren die erotischen Idole ihre Bedeutung und geraten in Vergessenheit, in der Pubertät erweckt der Trieb sie wieder zum Leben. Sie stellen nun bereits ein Erbe aus der Vorzeit dar. Begegnet wird ihnen, indem eine Person oder ein Vorgang der Gegenwart Anschluß an die triebgeladenen Idole der Vergangenheit findet. Es ist eine Art des Wiedererkennens, verknüpft mit der Forderung nach der Einlösung alter Versprechungen. Von diesem Zeitpunkt an findet der durch die Latenz unterbrochene Prozeß eine Fortsetzung: die erotischen Idole werden mit realistischeren Aspekten ausgeschmückt und zu brauchbaren Bildern gerundet, es entstehen Vorstellungen von "Traum-Mann" und "Traum-Frau" sowie Vorstellungen eines "Traum-Selbst", ohne daß dadurch der infantile Kern, die Triebfeder der Faszination, jemals verschüttet werden könnte. Zu diesem Zeitpunkt bilden sich auch homo- oder heterosexuelle Präferenzen aus, indem herausgefunden wird, wie den Lustpotentialen der Idole angesichts des gegenwärtigen Selbst und der gegenwärtigen Welt am besten zur Verwirklichung verholfen werden kann. Die bis dahin in wesentlichen Zügen schon vorbereitete prospektive Identität, die neben dem Geschlecht auch viel feinere Nuancen umfaßt, liefert die wesentlichen Anhaltspunkte, wo und wie diese Verwirklichung erlebt werden könnte - und erlebt werden möchte.
Erotische Interaktion von Menschen ist dadurch gekennzeichnet, daß den Beteiligten das Begehren und die Lust des anderen etwas bedeuten, oft handelt es sich dabei um die eigene Phantasie von Begehren und Lust des anderen, in manchen Fällen auch um ein fürchterliches Mißverständnis. Ich beziehe mich auf drei Quellen in der Literatur, die auf diese Phänomene eingehen, nämlich Schellenbaum (1980), Morgenthaler (1987) und Valverde (1994), alle unter völlig verschiedenen Gesichtspunkten und mit völlig anderen Theoriebezügen. Vermutlich gibt es mehr Literatur dazu, doch das Thema taucht im Schlagwortkatalog von Bibliotheken nicht auf. Ich verzichte darauf, eine Zusammenfassung der jeweiligen Arbeiten zu geben, sondern greife nur die Gedanken heraus, an die ich anknüpfen möchte.
Peter Schellenbaum vertritt die Auffassung, daß Homosexuelle die Männlichkeit anderer Männer als Ersatz für die innere Wahrnehmung der eigenen Männlichkeit erleben. Diese eigene Männlichkeit wahrzunehmen sind sie nicht imstande; die Männlichkeit des anderen erleben sie in der Art einer Blendung. "Wahrnehmung" ist dabei mehr als ein rein kognitiver Vorgang, nämlich eine Verbindung einer äußeren und inneren Wahrnehmung, gleichzeitig "Wahrmachung". Wahrgenommen wird das männliche Selbst, die eigene "zentrale Männlichkeit", ein "archetypisches Aktionsmuster", das in einem äußeren Aktionsmuster eine Entsprechnung findet, ein inneres Aktionspotential aktiviert und nach Verwirklichung drängt. Der Homosexuelle nimmt Männlichkeit im anderen wahr und versucht sie durch sexuelle Verschmelzung zu erreichen. Die Sehnsucht nach dieser Männlichkeit verknüpft Schellenbaum mit der Vorstellung eines inneren Entwicklungsziels und einer Dynamik der Selbstverwirklichung und Ganz-Werdung. Ein weiteres zentrales Konzept ist das der "Spiegelung", das in etwa bedeutet, das eigene Selbst wahrzunehmen durch das, was andere in einem wahrnehmen und zu erkennen geben. In der eigenen Männlichkeit von anderen gespiegelt zu werden, ist Voraussetzung dafür, sie in sich selbst wahrnehmen zu können. Von homosexuellen Forschern ist Schellenbaums Arbeit großteils ablehnend oder gar nicht zur Kenntnis genommen worden (z.B. Lautmann 1993). Ich halte sie hingegen für wertvoll, vor allem durch die gut nachvollziehbare Interpretation der Fallbeispiele, obwohl der Theoriehintergrund von C.G. Jung und die Pathologisierung der Homosexualität die Rezeption für mich erschwert haben. Interessant ist es, das Begehren nach Männlichkeit als Sehnsucht nach einem verinnerlichten Ziel aufzufassen, interessant ist die Konzeption eines Wahrnehmungserlebnisses als Verwirklichung eines essentiellen inneren Anliegens, interessant ist die Möglichkeit, daß dieses Anliegen sowohl im Selbst wie im Objekt eine Verwirklichung erfahren kann.
Fritz Morgenthaler verwendet in seinen psychoanalytischen Arbeiten zur Homosexualität als zentrale Begriffe nicht Männlichkeit, Weiblichkeit und Wahrnehmung, sondern spricht - seiner eigenen theoretischen Konzeption von Autoerotik und ödipaler Unterwerfung folgend - von aktiven und passiven Reaktionsmustern und Erlebnisweisen. Im homosexuellen Begegnungen sieht er zwei einander widersprechende Erlebnisweisen: die Neigung, sich passiv, abwartend und zur Unterwerfung verführbar zu zeigen, und die Neigung, sich aktiv suchend und erobernd einzustellen. Beide Tendenzen stehen in jedem Partner bereit und wechseln sich in homosexuellen Beziehungen charakteristischerweise immer wieder ab. Die Fähigkeit, alternierend und konfliktfrei zwischen diesen einander widersprechenden Erlebnisweisen zu wechseln, sieht Morgenthaler als ein Spezifikum der Homosexualität, im Gegensatz zu den polaren Gegensätzen der Heterosexualität.
Mariana Valverde beschäftigt sich aus feministischer Sicht mit weiblicher Sexualität, wobei es ihr nicht vorrangig um eine Theorie der Sexualität geht. Manche theoretisch hochinteressanten Vorstellungen tauchen gewissermaßen am Rande auf. Auch für Valverde geht es im sexuellen Erleben um Wahrnehmung in der Art eines "Erkennens": ein Bedürfnis zu "erkennen" und "erkannt" zu werden, das jedoch kein intellektuelles, sondern ein emotionales Anliegen ist. Sie spricht (weit besser als ich es könnte) von der Möglichkeit, sich mit der Lust des anderen zu identifizieren und durch sie befriedigt zu werden. Die komplementäre Lust von "männlich" und "weiblich" gehört beiden PartnerInnen und können von beiden erlebt werden. Beide PartnerInnen sind gleichzeitig Subjekt und Objekt, füreinander und auch für sich selbst.
Valverdes Vorstellungen lassen sich an Schellenbaums Konzepte von Wahrnehmung und Spiegelung anknüpfen, und führen diese damit aus der Enge, in die sie durch die pathologisierende Sichtweise geraten sind, zu einer allgemeineren Theorie des sexuellen Erlebens. Eine solche Anknüpfung erfordert einige theoretische Bausteine, die ich weder Schellenbaum noch Valverde entnehmen kann. Daher greife ich auf die im letzten Abschnitt entwickelte Vorstellung erotischer Idole zurück. Ich bin mir im klaren darüber, daß es sich hier um ein sehr spekulatives theoretisches Konstrukt handelt, doch es ist besser als nichts, und es gestattet den Bau eines Modells, das erstens einigermaßen konkrete Vorstellungen liefert, warum und wie das Geschlecht von erotischer Relevanz ist, das zweitens erfreulicherweise für Homo- und Heterosexuelle gleichermaßen anwendbar erscheint, und das drittens über die Beschreibung von Wahrnehmungs- und Interaktionsprozessen die Vorgänge auch soziologisch besser greifbar macht.
Die erotischen Idole entsprechen in diesem Modell dem, was Schellenbaum in seinem Theorierahmen als "archetypisches Aktionsmuster" bezeichnet. Die Idole drängen nach Verwirklichung, und sie tun dies mit der Kraft des Triebes. Die Unterscheidung in männliche und weibliche Idole bezieht sich auf den infantilen Entwurf von Geschlecht und Lust, der durchaus naive, utopische und vielleicht auch irreführende Züge aufweisen kann, und mit dem erwachsenen Geschlechterbild keinesfalls gleichzusetzen ist. Wenn im erotischen Kontext davon die Rede ist, jemand begehre die Männlichkeit oder Weiblichkeit eines anderen, dann bezeichnet dies keine allgemein bestimmbaren Eigenschaften, sondern einen Wahrnehmungsakt, der ein im Wahrnehmenden selbst verankertes, psychogenetisch altes Muster aktiviert. Wahrgenommen wird eine Person in ihrem Potential, ein erotisches Idol zu verwirklichen. Das Idol findet Anschluß an Gestalten und Szenen in der Gegenwart und weckt damit sexuelles Interesse und Verlangen. Dieser Vorgang ist die Wahrnehmung eines Idols im Objekt. Dem Objekt werden dabei die Impulse und Lüste zugeschrieben, die im Idol gebunden sind. Ein völlig anderer Vorgang ist die Wahrnehmung eines Idols im Selbst, wodurch das Selbst sich als Verwirklichung eines Idols erfahren kann. Dabei gewinnt nun das Konzept der Spiegelung an Bedeutung, denn für eine derartige Selbstwahrnehmung scheint es wesentlich, vom anderen im eigenen Potential wahrgenommen zu werden, ein Idol zu verkörpern. Man könnte sagen: erst in den Augen eines anderen wird das Selbst objektförmig und kann an ein Idol anschließen.
Diese beiden Wahrnehmungsvorgänge bedingen die gegenseitige Verwiesenheit in der erotischen Interaktion. Die Beteiligten können ihre Idole im Selbst und ihre Idole im Objekt nur mit Hilfe des jeweils anderen verwirklichen. Die erotische Selbstwahrnehmung des einen Partners wird durch die Objektwahrnehmung des anderen angeregt und gestützt, umgekehrt bedarf die Objektwahrnehmung des einen eine Stützung durch die Selbstwahrnehmung des anderen. Eine nicht funktionierende erotische Interaktion ist dadurch gekennzeichnet, daß der eine im anderen etwas begehrt, das dieser in sich selbst nicht wahrzunehmen vermag, oder als etwas begehrt zu werden wünscht, das der andere in ihm nicht wahrnehmen will. Eine derartige Interaktion gerät zur Enttäuschung. Das ist also in etwa dieses Bedürfnis zu "erkennen" und "erkannt" zu werden, von dem Valverde in ihrer Beschreibung erotischer Interaktion spricht.
Betrachten wir zur Illustration die klassischen heterosexuellen Verhältnisse aus der Perspektive des Mannes. Er begegnet einer Frau, deren Weiblichkeit er begehrt, da er in ihr eine Verkörperung seiner weiblichen Idole entdeckt. Nehmen wir an, er fühlt sich von ihr ebenfalls begehrt, wodurch er selbst sich als Verkörperung seiner männlichen Idole erfahren kann. In ihrer sexuellen Verschmelzung erlebt er die Lust seiner eigenen weiblichen Idole, indem er sie der Frau zuschreibt und diese Lust emphatisch teilt, und die Lust seiner eigenen männlichen Idole, indem er sie mit Hilfe der Spiegelung in sich selbst verortet. Umgekehrt, von der Warte der Frau, ergeben sich die Verhältnisse analog dazu. Beschrieben ist hier ein theoretischer Idealfall, der nicht immer der Realität entsprechen wird, denn eine derartige erotische Interaktion ist sehr voraussetzungsreich. Sie erfordert, daß beide Partner über ein ähnliches Set von erotischen Idolen verfügen, ihre Selbst- und Objektwahrnehmung harmonisieren, und aneinander soweit Anteil nehmen, daß Begehren und Lust austauschbar werden.
Für homosexuelle Verhältnisse steht die Annahme Schellenbaums zur Verfügung, daß homosexuelle Männer die Männlichkeit eines anderen begehren und ihre eigene damit ausblenden. Unter dieser Annahme ergäbe sich eine erotische Interaktion nur unter den Umständen, daß der Partner in einer solchen Begegnung in narzißtischer Weise bestrebt ist, männliche Idole in sich selbst zu realisieren, wobei er sein Gegenüber als Spiegel verwendet. Das wäre noch um einiges voraussetzungsreicher als erotische Interaktion es ohnehin schon ist. Eine Art der Parallel-Wahrnehmung männlicher Idole im Selbst und im Objekt wäre im vorliegenden Modell schwer unterzubringen. Dies würde eine Identifikation mit dem Partner auf der Ebene der Wahrnehmung bedeuten und das Begehren außer Kraft setzen - darauf zielen beispielsweise Schellenbaums Bemühungen zur Therapie der Homosexualität ab. Hier kommt nun Morgenthalers Vorstellung eines oszillierenden Vorgangs zu Hilfe, denn sie erlaubt es, diesen Wahrnehmungsakten eine potentielle Flexibilität zu unterstellen, was ein sehr wesentlicher Punkt ist. Entgegen Schellenbaum wäre also anzunehmen, daß homosexuelle Männer sehrwohl Lust daraus beziehen können, in ihrer eigenen Männlichkeit vom Begehren des Partners gespiegelt zu werden. Die erotische Interakton diesbezüglich spielt sich mit verteilten und wechsenden Rollen ab.
Was ist nun mit den weiblichen Idolen in der erotischen Interaktion schwuler Männer? Haben sie keine? Ist Weiblichkeit für Schwule nicht mit Lustpotentialen verknüpft? Theoretisch wäre es kein Problem, das anzunehmen. Es wäre beispielsweise denkbar, daß Schwule in ihrer Kindheit das weibliche Geschlecht als lustarm wahrgenommen und alle ihre Triebwünsche in männlichen Idolen verankert haben. Vielleicht ist dies zum Teil auch der Fall. Ebenso denkbar ist aber, daß Schwule durchaus über weibliche erotische Idole verfügen und deren Verwirklichung erleben wollen, im Unterschied zum heterosexuellen Mann jedoch nicht im Objekt, sondern im Selbst. Die Möglichkeit an sich, weibliche Idole in einem Mann oder männliche Idole in einer Frau wahrzunehmen, scheint nicht grundsätzlich verwehrt. Die Idole finden Anschluß über signifikante Züge in ihrer archaischen Bilderwelt, die Geschlechtszuordnung der Alltagswelt kann auf dieser Ebene relativ belanglos sein. Die genaueren Hintergründe derartiger Wünsche können hier nicht bestimmt werden. Als dritte Möglichkeit zur Lösung der Frage, was schwule Männer mit ihren weiblichen Idolen anstellen, bietet sich an, daß sie männliche und weibliche Idole im selben Objekt wahrnehmen. Auf diese Möglichkeit hat bereits Freud (1988 S. 21) hingewiesen.
Damit ergeben sich nun verschiedene Konstellationen von Selbst- und Objektwahrnehmung, die sich noch weiter auffächern, wenn die Unterscheidung der hellen und dunklen Idole berücksichtigt wird. Männliche und weibliche, helle und dunkle Idole können in der Wahrnehmung verschmelzen oder sich aufspalten. Diese Konstellationen können als erotische Position bezeichnet werden - etwa in dem Sinn, wie es verschiedene Positionen der Körper in der sexuellen Interaktion gibt. Die folgende Tabelle rückt dem Problem zwar mit Systematik zu Leibe, ist aber nicht ganz ernst zu nehmen. In einem rein theoretischen Testlauf des Modells werden verschiedene Varianten des Begehrens entwickelt. Die Tabelle umfaßt 16 rechnerische Kombinationen, von denen 8 beschrieben werden, bei denen mindestens ein männliches Idol im Objekt liegt - gewissermaßen als Rechtfertigung für die homosexuelle Objektwahl. Der Rest ergibt sich durch Vertauschung. Auf die Darstellung der sich durch Auslassung ergebenden weiteren 144 Variationen wird verzichtet.
Position | Idole im Selbst | Idole im Objekt | Illustrative Beschreibung | ||||||||
1 | Eine androgyne, helle Gestalt, erfüllt von lasterhaften Wünschen, sich einem männlichen Tier hinzugeben. | ||||||||||
2 | Ein schönes, reines und gutes Wesen ohne Arg, in banger Erwartung eines Satyr von grenzenloser und erschreckender Lüsternheit. | ||||||||||
3 | Ein männlicher Held, in dessen Tiefen dunkle weibliche Verlangen schlummern, wünscht die Begegnung mit einem jungfräulichen Geschöpf, das ihn mit männlichen Ferkeleien überrascht. | ||||||||||
4 | Eine freundliche und unschuldige Männlichkeit auf der Suche nach einer hüschen, femininen Erscheinung, die mit universeller und absolut verwerflicher Triebhaftigkeit aufwarten kann. | ||||||||||
5-8 | Wie Position 1-4, bloß seitenverkehrt | ||||||||||
9 | Rassiges Vollweib sucht einen richtigen Mann, der schön und auch von dunkler Wildheit ist. | ||||||||||
10 | Liebliche Jungfrau wünscht sich einen tapferen Helden, der unterschiedslos zu allen Schandtaten der Lust bereit ist. | ||||||||||
11 | Eine von nymphomanischer Gier getriebene Person verlangt es danach, von einer androgynen Lichtgestalt auf männliche Weise überwältigt zu werden. | ||||||||||
12 | Jemand begehrt ein schönes, androgynes Geschöpf mit multierotischen Lustpotentialen. | ||||||||||
13-16 | Wie Position 9-12, bloß seitenverkehrt |
Es geht hier keinesfalls darum, eine neue Typologie schwuler Männer zu entwickeln. Unter dem Gesichtspunkt, daß die Wahrnehmung erotischer Idole sich flexibel zwischen Selbst und Objekt entwickeln kann, handelt es sich um Momentaufnahmen denkbarer Begierden. Allenfalls geht es um Präferenzen, die eine mehr oder weniger ausgeprägte Grundeinstellung bilden. Auf eine Erörterung der einzelnen Positionen kann getrost verzichtet werden, da ich mich nicht auf die Systematik selbst kaprizieren will, sondern nur zeigen möchte, daß sich mit dem Modell selbst unter seinen vereinfachenden Annahmen komplexe Verhältnisse entwickeln lassen. Und eine gewisse Komplexität muß gewährleistet sein, denn mit einem allzu simplen Schema ist der Vielfalt der Erotik nicht beizukommen - um das festzustellen reicht es aus, eine Seite schwuler Kontaktanzeigen zu studieren.
Erotische Interaktion im Alltag findet überall dort statt, wo Menschen zusammenkommen: in der U-Bahn, am Arbeitsplatz, in Bars und in Betten. Das Agieren in den Geschlechtsrollen - womit ich vor allem die körpersprachlichen Ausdrucksmittel meine, und nicht die Frage, wer den Abwasch erledigt - hat Signalcharakter für die Idole. Ein gewisses selbstverliebtes Kokettieren mit geschlechtstypischen Posen und Insignien ist eine Einladung an die anderen, ihre erotischen Idole im Objekt zu finden, umgekehrt regt das Zeigen von Interesse und Bewunderung die Spiegelung an und verführt dazu, erotische Idole im Selbst zu realisieren. Das Agieren in Geschlechtsrollen ist ein Verständigungsmittel für Menschen, die ihr sexuelles Interesse nach den Geschlechtern ausrichten, und die damit einhergehenden Wahrnehmungsvorgänge sind von hoher erotischer Relevanz. In diesem Sinn machen Geschlechtsrollen Lust, und das Agieren in Geschlechtsrollen bedeutet weit mehr, als bloß den sozialen Erwartungen nachzukommen oder sich mehr oder weniger gedankenlos den vorherrschenden Geschlechtertypisierungen zu unterwerfen. In der etwas kopflastigen Debatte über die Geschlechterverhältnisse wird dieser Punkt häufig vernachlässigt. Es ist eine Verschränkung von Sozialstruktur und Lust: Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität determinieren die Selbst- und Objektwahrnehmung im erotischen Kontext, und diese Erotik ist es, die den an sich sterilen Normen der Geschlechterordnung Vitalität und Schwung verleiht.
Aus einer entfernteren Perspektive betrachtet ist die erotische Interaktion ein Organisationsproblem der Gesellschaft. Zu ihrem Funktionieren ist es notwendig, daß die Gesellschaftsmitglieder über ein ähnliches Set von erotischen Idolen verfügen, da sie sonst keinen Anschluß aneinander finden würden. Die in der konstruktivistischen Literatur als gesellschaftliche Leistung hervorgehobene Aufrichtung eines Systems der Zweigeschlechtlichkeit bewirkt die Differenzierung der bisexuellen Triebwünsche in männliche und weibliche Idole der Lust, und sichert damit gewissermaßen den kleinsten gemeinsamen Nenner erotischer Interaktion. Die Sozialisation im zweigeschlechtlichen System sorgt dafür, daß den künftigen Gesellschaftsmitgliedern die Lustmöglichkeiten und Grenzen der Geschlechter frühzeitig beigebracht werden, diesen Möglichkeiten und Grenzen spüren sie dann ihr restliches Leben lang nach, und im Zuge ihres Tuns sorgen sie dafür, daß Generationen nachkommen, und daß diesen nachkommenden Generationen das Wissen über die Lust der Geschlechter erhalten bleibt. Die Geschlechterdifferenz wird erotisch reproduziert - umgekehrt läßt sich genausogut sagen, daß die Geschlechterdifferenz zur Reproduktion der Erotik benötigt wird. Diese Feststellung sollte nicht als Anschluß an konservative Forderungen nach Beibehaltung des erprobten Modells verstanden werden, sondern nur klarstellen, daß die soziale Konstruktion der Geschlechterdifferenz Implikationen für die Erotik birgt, wie immer das eine oder das andere auch ausehen mag.
Die konventionelle heterosexuelle Lösungsmethode des Organisationsproblems erotischer Interaktion sieht vor, daß männliche Idole von Männern und weibliche Idole von Frauen verwirklicht werden, sodaß beide zur Verwirklichung der Lustpotentiale des anderen Geschlechts aufeinander verwiesen sind. Die Positionen in der erotischen Interaktion werden anhand der geschlechtlich definierten Körpern festgelegt. Die grundsätzlich gegebene Flexibilität der Wahrnehmung, die den Idolen keine Vorschriften auferlegt, ob sie im Selbst oder im Objekt Verwirklichung finden, stellt unter heterosexuellen Verhältnissen eine Quelle der Verwirrung und eine Gefahr dar. Daher üben heterosexuelle Männer den Kampf miteinander, der die latente Versuchung abwehren hilft, im anderen Mann die Verkörperung männlicher Idole wahrzunehmen, und deshalb pflegen sie vielleicht auch eine merkwürdig doppelbödige Geringschätzung des Weiblichen, weil ihnen das den Wunsch vom Leib hält, weibliche Idole in sich selbst zu realisieren, während auf der anderen Seite die weibliche Sozialisation den Frauen spezifische Beschränkungen auferlegt, die verhindern sollen, daß sie ihre männlichen Idole in sich selbst umzusetzen.
Unter Homosexuellen, die lange Zeit als gefährliche Irritation des heterosexuellen Organisationsmusters verfolgt wurden, sieht die Sache vollständig anders aus. Wir können davon ausgehen, daß sich in dieser Population überwiegend Männer versammeln, die eine ausgeprägte Präferenz dafür zeigen, die männlichen Idole im Partner wahrzunehmen und dessen Lust an der Selbstwahrnehmung identifikatorisch zu teilen. Wenn nun aber der Partner mit den selben Wünschen an die Sache herangeht, stellt sich keine erotische Interaktion ein. Der Frage, inwieweit es sich hier um starre oder flexible Positionen handelt, kommt unter diesen Umständen größte Bedeutung zu. Dazu liegen Schellenbaums Beobachtungen vor, in denen Homosexuelle auf die Männlichkeit anderer Männer fixiert sind und ihre eigene männliche Selbstwahrnehmung ausblenden, auf der anderen Seite Morgenthalers Beobachtungen von Homosexuellen, die mühelos und konfliktfrei zwischen beiden Erlebnisweisen pendeln. Vermutlich liegt die Wahrheit in der Mitte. Das eingespielte Wahrnehmungsmuster schwuler Männer legt es nahe, zunächst und in erster Linie die Männlichkeit des anderen zu begehren. Erleben sie sich selbst als Objekt der Begierde, aktiviert die Spiegelung ihre männliche Selbstwahrnehmung - die schwule Subkultur bietet in dieser Hinsicht ein günstiges Milieu.
Unter den Bedingungen der schwulen Subkultur wird Flexibilität zum dominanten Organisationsmuster erotischer Interaktion. In der Praxis funktioniert das ebensowenig lückenlos und perfekt wie das heterosexuelle Muster der Starrheit. Begegnungsorte, an denen es möglichst finster ist und an denen möglichst nicht gesprochen wird, sind ein Indiz dafür, daß hier nicht erotische Interaktion stattfindet, sondern eine Phantasie davon, die vor optischen und arkustischen Wahrnehmungen geschützt werden muß, um nicht zusammenzubrechen. Flexibilität setzt auf der einen Seite voraus, die Lust der Männlichkeit im Selbst zuzulassen, auf der anderen Seite erfordert sie die Bereitschaft, von utopischen Idealbildern abzurücken und die begehrte Männlichkeit des anderen als Fundstück des Augenblicks zu akzeptieren.
Das Tuntige in der schwulen Subkultur interpretiere ich als eine Artikulation der Bereitschaft oder vielleicht auch der Sehnsucht, weibliche Idole im Selbst zu realisieren. Dieses Phänomen liegt auf einer anderen Ebene als Identität - ohne behaupten zu wollen, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Es handelt sich um eine sehr spezifische, archaische, auf den erotischen Bereich begrenzte Form der Selbstwahrnehmung. Diskursiv scheinen derartige Erfahrungen kaum behandelbar, am ehesten in der Art spielerischer Phantasmen, wie sie in der Darstellung des Beobachtungsmaterials beschrieben wurden, darin liegt der Unterschied zum transsexuellen Wirklichkeitsanspruch. Um unzulässigen Verallgemeinerungen vorzubeugen ist ferner klarzustellen, daß der Wunsch, weibliche Idole im Selbst zu realisieren, nicht als genereller Bestandteil schwulen Begehrens aufzufassen ist. Der im letzten Abschnitt eher spielerisch aufgestellte Katalog möglicher Positionen in der erotischen Interaktion hat zumindest den realistischen Aspekt, daß erotische Präferenzen sehr vielfältig angelegt sein können. Die männlichen und weiblichen Idole können im Objekt verschmelzen, oder in verschiedenen Variationen im Selbst nach Realisierung drängen. Während im ersteren Fall das Problem darin liegt, ob ein derart universelles Objekt der Begierde auf Erden überhaupt zu finden ist, und in welche Art von Beziehung man mit ihm treten könnte, stellt sich in zweiterem Fall das Problem, daß dem Gegenüber eine heterosexuelle Position abverlangt wird und im Lüste angeboten werden, die er auf weniger beschwerlichem Weg auch in der heterosexuellen Gesellschaft hätte finden können. Das Agieren mit Elementen der weiblichen Geschlechtsrolle, als Ausdruck lustvoller Selbstwahrnehmung und als Einladung zur erotischen Interaktion, ist in der schwulen Subkultur schlecht anschlußfähig. Aus Sicht der anderen ist dieses Tun selbstbezogen und hinderlich auf ihrer eigenen Suche nach der Verkörperung männlicher Idole. Unter einem "lustökonomischen" Gesichtspunkt betrachtet genießt durch die einseitig angelegten Präferenzen die Männlichkeit den Wert eines knappen Gutes, während die Weiblichkeit gleichsam als Überfluß abgewertet wird.
Es ist nicht uninteressant, die in der Untersuchung des Alltagswissens gezeigten Bilder von Tunte und Kerl unter dem Gesichtspunkt erotischer Idole zu betrachten, durch individuelle und kollektive Transformationen verzerrt, aber immer noch erkennbar. Das helle weibliche Idol: zart, wehrlos und eitel, und das dunkle: bösartig, sexbesessen und anal unersättlich, das helle männliche Idol: attraktiv, stark und ein wenig tolpatschig, und das dunkle: aggressiv, grob und fickend. Diese Bilder weisen der Weiblichkeit ein immenses Lustpotential zu, die damit in Verbindung gebrachte Unattraktivität verweist auf ein immenses Spiegelungsdefizit. Die weiblichen Idole stellen in der schwulen Subkultur sowohl ein Faszinosum wie ein Integrationsproblem dar, und die einzige sichtbare Lösung liegt, so wie in Bezug auf die männlichen Idole, in der Flexibilität.
Flexibilität in der erotischen Interaktion scheint möglich, doch sie darf nicht als leicht gedacht werden. Das Jonglieren mit Idolen und erotischen Positionen im theoretischen Modell sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um wesentlich mehr handelt als um die Frage "wer bumst wen". Es geht um sehr tiefgreifende innerliche Erfahrungen, um einen sehr tiefgreifenden seelischen Austausch zwischen Menschen, und um die Bereitschaft, sich auf Lust und Begehren des anderen einzulassen. Darüberhinaus besteht eine Verbindung mit Fragen der Identität. Der Wert des Konzepts erotischer Interaktion besteht zum Teil darin, die Ebenen von Erotik und Identität auseinander halten zu können, jedoch stehen sie in einer unübersehbaren Wechselbeziehung. Die Identität, als von Kontinuität gekennzeichnete Selbstverortung der eigenen Existenz in einem sozialen Kontext, setzt der erotischen Selbstwahrnehmung Grenzen, bei deren Überschreitung die Identität gefährdet scheint, umgekehrt stellen die Wahrnehmungsakte in der erotischen Interaktion - sofern sie nicht als als Zwänge oder Überwältigungserlebnisse abgespalten werden - die Anforderung, im Rahmen einer Gesamtwahrnehmung der eigenen Person verarbeitet zu werden. Eine Selbstverortung in der Art "Mann - schwul - Tunte oder Kerl" ist dazu schlecht geeignet. Der hohe funktionale Wert, den die Festlegung einer klaren und unveränderlichen Identität als Mann oder Frau für die erotische Interaktion in der heterosexuellen Gesellschaft hat, läßt sich bezogen auf die Differenz von Tunte und Kerl in der schwulen Subkultur nicht finden, da Selbsttypisierungen dieser Art die erotische Interaktion eher erschweren als erleichtern. Morgenthaler sieht daher die Notwendigkeit, eine eigene homosexuelle Geschlechtsrolle zu definieren, gekennzeichnet durch das alternierende Rollenspiel (1987 S. 131ff.). Diese Identität würde also in etwa so lauten: "Mann - schwul - flexibel". Dieses Muster zu einer stimmigen Form des Selbsterlebens zu verarbeiten ist die Schwierigkeit, der homosexuelle Männer gegenüberstehen.
Die in der subkulturellen Alltagstheorie vorzufindenden Personenkategorien von Tunte und Kerl sind ein Relikt bzw. ein Kulturimport aus der heterosexuellen Gesellschaft, oder genauer: sie sind ein Ausläufer eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses, der die Menschen in zwei Kategorien spezifischer Lustpotentiale scheidet. Es ist interessant zu sehen, daß eine derartige Zweiteilung der Lust in ihrer Wirkung genug Wucht mitbringt, um geschlechtsähnliche Kategorien in einer eingeschlechtlichen Subkultur hervorzubringt, in der weder die Körper noch irgendeine Art gesellschaftlicher Aufgabenteilung eine solche Zweiteilung rechtfertigen. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß die erotische Komponente in dem, was wir als "soziales Geschlecht" auffassen, eine sehr erhebliche Bedeutung für die gesellschaftliche Geschlechterkonstruktion an sich hat. Das heißt, daß eine Betrachtung der Geschlechterverhältnisse unter Gesichtspunkten wie "Arbeitsteilung", "Herrschaft", "Geschlechtsrollen" etc. eine wesentliche Komponente außer acht läßt, und daß eine darauf beruhende Betrachtung unter dem Gesichtspunkt "Ungleichheit" - womöglich mit dem edlen Ziel der Gleichheit - in die Gefahr gerät, den erotischen Wert von Ungleichheit unzureichend zu berücksichtigen.
In der schwulen Subkultur selbst verliert das heterosexuelle Organisationsprinzip der starren Zweiteilung von Personenkategorien nach ihren Lustpotentialen seinen funktionalen Wert, da die vorhandene Population unter diesen Umständen die gegenseitige Befriedigung der Bedürfnisse nicht bewerkstelligen könnte. Anders als in der heterosexuellen Geschlechterwelt, die auf Eindeutigkeit und Deklaration beruht, zeigen die subkulturellen Verhältnisse eine Tendenz zu Uneindeutigkeit und Verschleierung. Eine verbindliche Zuordnung von Personen als Tunte oder Kerl wird sorgfältig umgangen, was als Ansatz zu einem neuen Organisationsprinzip der Flexibilität interpretiert werden kann. Deutlicher sichtbar wird dies in den schwulen Sprach- und Rollenspielen: jeder kann eine Frau, jeder ein Mann sein. Zudem tragen die Spiele zur Undurchsichtigkeit der Verhältnisse bei und sind ein (bescheidener) kulturschöpferischer Beitrag zur kollektiven Bewältigung eines Problems - das lautet, einen eigenen Weg zu finden, um der Verlockung beider Geschlechter habhaft zu werden.
Die schwule Subkultur entwickelt eine durchaus innovative Dynamik in der Produktion von Verhaltensrepertoirs, Normen und Interaktionsformen, aber sie bleibt ein Teil- oder Schattenbereich der heterosexuellen Gesamtgesellschaft. Jeder, der sich in der schwulen Subkultur bewegt, ist Mitglied zweier Kulturen und sieht sich unterschiedlichen Ansprüchen ausgesetzt. Allein dadurch entstehen beträchtliche Konflikte und Belastungen. Sofern sich aus der vorliegenden Arbeit irgendwelche Forderungen ableiten lassen, lauten sie so, die schwule Subkultur als Lebensbereich mit eigenen Entwicklungsmöglichkeiten aufzuwerten. Sie ist mehr als ein unfreiwilliges Ghetto oder eine Einrichtung zur raschen Bedürfnisbefriedigung. Mit einem stärkeren Selbstbewußtsein könnte die schwule Subkultur auch vermehrt eigene Ressourcen bilden, um ihre Mitglieder zu integrieren und zu stützen.
Hinsichtlich der weiteren Forschung wäre eine Theorie gefragt, die den Zusammenhang zwischen Geschlechterverhältnissen und Sexualität, besonders die Schnittstelle zwischen sexuellem Erleben und sozialen Rollenmustern erfaßt. Eine solche Theorie müßte sowohl psychologisch wie soziologisch fundiert und anwendbar sein. Vielleicht ist der hier vorgestellte Ansatz ein Baustein dazu, vielleicht bedarf es auch einen völlig anderen Ansatzes. Ohne eine solche Theorie wird es schwer fallen, eine Neukonzeption der Geschlechterverhältnisse ins Auge zu fassen, und ohne sie bleibt die öffentliche Debatte über die Geschlechter lustlos, während auf der anderen Seite die Debatte über die Lust darauf reduziert wird, mit welchen Hilfsmitteln wir sie uns erhalten.