Franz Kottira kottira@webnet.at
erstellt im Juni 2001, letzte Aktualisierung 20.10.2001
Stichworte: Wissenschaft, Soziologie, Psychologie, Homosexualität, Schwule, homosexuelle Subkultur, Geschlechterverhältnisse, Geschlechtsrollen, Männlichkeit, Weiblichkeit
Dieses Dokument beruht auf meiner Dissertation aus dem Jahr 1999 an der Universität Wien mit dem Titel "Tunten und Kerle. Eine empirische soziologische Untersuchung über geschlechtsähnliche Konstruktionen in der schwulen Subkultur", betreut von Univ. Prof. Dr. Jürgen M. Pelikan und Univ. Doz. Dr. Wolfgang Stangl. Es handelt sich hier nicht um die Wiedergabe der vollständigen Dissertation. Erstens wäre die zu umfangreich, zweitens strebe ich eine Selbstbeschränkung auf die wichtigsten Inhalte an, drittens liegt der damalige Text bloß noch als ASCII-File auf einer Amiga-Disk vor, und ich habe weder eine Idee, wie er zu konvertieren wäre, noch den Wunsch, diesen bestehenden Text erneut zu bearbeiten. Durch eine komprimierte Neuabfassung gewinne ich die Möglichkeit, Schwächen auszubügeln und etwas von dem dissertationsbedingten Ballast abzuwerfen.
Kritik, Einwände, Anregungen und sonstige Rückmeldungen sind willkommen! Mail an kottira@webnet.at .
Mein Interesse gilt Beobachtungen in der schwulen Subkultur. Demnach spielen im Umgang schwuler Männer Zuschreibungen von Weiblichkeit und Männlichkeit eine nicht geringe Rolle, am deutlichsten etwa in Form von Behauptungen, dieser sei eine Tunte, jener ein Kerl. Es wird beobachtet, klassifiziert und gelegentlich auch diskutiert. Darüberhinaus wird Selbstdarstellung mit weiblichen und männlichen Attributen betrieben, und vor allem wird viel damit gespielt.
Um dem Phänomen auf die Spur zu kommen, habe ich mich der Methoden der Beobachtung und der Befragung bedient - wobei die Beobachtung ergibiger war, um das gleich vorwegzunehmen. Das gewählte Beobachtungsfeld war ein sehr kleines, nämlich das Publikum in einem Lokal der Wiener schwulen Szene namens "Wiener Freiheit". Die Wahl des Ortes erfolgte unter dem Gesichtspunkt des guten Zugangs und der Bequemlichkeit. Methodisch handelt es sich um eine verdeckte teilnehmende Beobachtung bei größtmöglicher Nichteinmischung in das laufende Geschehen. Auf Einzelheiten der Vorgangsweise und methodische Probleme wird in einem eigenen Kapitel eingegangen. Im Sinne qualitativer Sozialforschung wird nicht der Anspruch erhoben, daß sich die in einem so kleinen Feld gewonnenen Ergebnisse auf die gesamte schwule Subkultur Wiens verallgemeinern lassen, erstrecht nicht auf die Subkulturen anderer Orte oder gar anderer Kulturen. Ziel ist es, ein Verständnis der Vorgänge zu entwickeln. Dieses Verständnis kann in der Folge auch in anderen Zusammenhängen von Interesse und Nutzen sein und weiterentwickelt werden.
In einem ersten Schritt geht es also darum, den Mikrokosmos einer schwulen Bar genau unter die Lupe zu nehmen, die Interaktionen der Teilnehmer zu beobachten und daraus ein Bild des Alltagswissens und der Alltagspraxis in einem kleinen sozialen Feld zu gewinnen. Mir persönlich erscheinen die so gewonnenen Ergebnisse interessant und in mancher Hinsicht erstaunlich.
Abgesehen von einer solchen eher deskriptiv orientierten Erfassung der Vorgänge stellt sich die Frage nach einer grundsätzlichen Erklärung. Es ist ja so: Diese Männer sind schwul und haben sich in einer Subkultur eingefunden, die sich um das sexuelle Interesse von Männern an Männern gebildet hat. Warum also stellen diese Männer in ihrer kleinen "Männerwelt" eine Unterscheidung auf, die sich so deutlich an die Geschlechterkategorien der Gesamtgesellschaft anlehnt, wo man doch eigentlich glauben müßte, daß sie gut darauf verzichten könnten?
Im Hintergrund einer derartigen Erklärungssuche steht die Geschichte einer diskriminierten Minderheit. Von dem Zeitpunkt an, als homosexuelle Männer als Kategorie und Gruppe überhaupt faßbar wurden, spielte Frage ihrer Weiblichkeit eine Rolle im Diskurs, und zwar zumeist als Vorwurf und als Begründung heftiger, mitunter zerstörerischer Ablehnung seitens der Mehrheit. Im Zuge der jüngeren schwulen Emanzipationsbewegung wurde der Vorwurf überwiegend zurückgewiesen. Eine Gedankenfigur, die das in sehr eleganter Weise ermöglicht, ist eine für diesen Zusammenhang adaptierte These der "Self-fulfilling Prophecy" bzw. eine Art des Labeling-Ansatzes (z.B. Bleibtreu-Ehrenberg 1981): Demnach wird das in der Gesellschaft pseudowissenschaftlich verbreitete Vorurteil, schwule Männer seinen weiblich, von den Betroffenen in das Selbstbild übernommen, in der Folge verhalten sie sich dementsprechend, und erlauben es der Gesellschaft, das Vorurteil weiter aufrechtzuerhalten.
In der Zeit meines eigenen Coming Out als schwuler Mann war ich ein überzeugter Anhänger dieser These, war sie doch einleuchtend und überdies taktisch vorteilhaft. In der Begegnung mit den verschiedenen Ausdrucksformen des "Tuntigen" in der schwulen Subkultur offenbarte die Argumentation mit der "Self-fulfilling Prophecy" aber nicht nur ernste Schwächen in der Plausibilität, sondern auch eine Portion Hinterhältigkeit, denn sie macht aus der Tunte ein Opfer (in der Art von: "Sieh nur, was die Gesellschaft aus dem armen Kerl gemacht hat!") und einen Täter (etwa: "Gott, so wie der sich auf der Straße bewegt, weckt er sämtliche Vorurteile!"). Welche Erklärung man auch immer für das Phänomen heranziehen will, man wird sich unweigerlich bewußt, in einem heiklen Feld von Diskriminierung und Emanzipation zu hantieren. Erst die reflektierte Distanzierung vom eigenen Alltagswissen und die Beschäftigung mit konstruktivistischen Positionen der neueren Geschlechterforschung hat dieses Problem für mich etwas entschärft. Wenn Fragen der Art diskutiert werden, wie Männer und Frauen "gemacht" werden (z.B. Knapp/Wetterer 1992), wie Gesellschaften die Relevanz von Unterscheidungen festlegen, und wie sich bei genauerer Betrachtung das schlichte Frau-sein und Mann-sein als höchst anspruchsvolle Leistungen der Selbstinszenierung herausstellt (Hirschauer 1993), dann läßt sich um einiges entspannter über die Unterscheidung von Tunte und Kerl in der schwulen Subkultur diskutieren.
Meine Gegenthese zum Ansatz der "Self-fulfilling Prophecy" ist an sich völlig unspektakulär: Homosexuelle Männer haben an Weiblichkeit ebenso Interesse wie an Männlichkeit. Das Interesse ist primär erotisch, und findet sekundär in den Themen und Interaktionsformen der Subkultur einen Niederschlag. Das Phänomen der "Tunte" hat ursächlich mit Lust zu tun, nicht mit Vorurteilen. Es ist nicht im Verhältnis einer diskriminierten Minderheit zur Mehrheit begründet, sondern einfach Folge des Umstandes, daß schwule Männer in einer heterosexuellen Gesellschaft sozialisiert wurden, in der nicht nur die Beschwerlichkeiten, sondern auch die Lüste (mehr oder weniger gerecht) nach Geschlechtern geordnet sind. Das schwule Spezifikum ist daher auch nicht das erotische Interesse an einem der beiden Geschlechter, sondern der Sonderweg, den sie einschlagen, um an der Lust beider Geschlechter teilzuhaben.