Inhaltsübersicht


1. Schwules Alltagswissen

1.1 Begriffe und ihre Ordnung

Unter "Alltagswissen" versteht die interpretative Soziologie jene Bestände an Wissen, die Gruppen oder Gesellschaften ansammeln, um eine gemeinsame Orientierung in der Welt zu finden. Konstruktivisten legen ferner Wert auf die Feststellung, daß die Wirklichkeit unserer Alltagswelt überhaupt erst durch das gemeinsame Alltagswissen hervorgebracht wird (Berger/Luckmann 1969). Bei diesem Alltagswissen handelt es sich um all das, was die Mitglieder eine Gruppe für selbstverständlich halten und als Wissen bei den anderen Mitgliedern fraglos voraussetzen. Diese Selbstverständlichkeit macht es für Insider schwer, ihr Wissen als solches überhaupt zu erkennen und die darin bestehenden Grundannahmen zu reflektieren.

Eine solche Grundannahme bei den beobachteten schwulen Männer scheint es zu sein, daß es möglich ist, schwule Männer nach einem Grad von Männlichkeit und Weiblichkeit einzustufen, wie etwa im folgenden Beispiel aus der teilnehmenden Beobachtung ersichtlich (wie in allen anderen Beispielen sind die Namen der Teilnehmer erfunden):

Mario: "Der Hubert hat eigentlich was Maskulines, so..."
Gerald schreit: "Was?!"
Mario (eingeschüchtert): "So vom Gesicht her, meine ich... Nur schminken tut er sich unvorteilhaft."
Andreas: "Der Leo schaut auch recht gut aus."
Gerald: "Die dünnen Augenbrauen gefallen mit nicht"
Mario (beharrlich): "Aber so vom Gesicht her hat der Hubert eigentlich ein männliches Gesicht. Nur den Mund aufmachen darf er nicht, sonst weiß man sofort, daß er eine Tunte ist."

Die Unterscheidung erfolgt in der Dimension Männlichkeit/Weiblichkeit, auf den Gehalt der damit verbundenen Vorstellungen geht der nächste Abschnitt genauer ein. An den Eckpunkten gibt es bestimmte Kategorien, die einen Gattungsnamen für eine Reihe irgendwie gearteter Individuen bereitstellen, so wie hier eben "Tunte". Fest steht einstweilen, vor dem Hintergrund unseres gesamtgesellschaftlichen Alltagswissens, daß die vorgefundene Differenz nicht auf körperliche Merkmale abzielt - und ausdrücklich wird hier auch das "männliche Gesicht" als ausschlaggebendes Kriterium verworfen.

Das macht die Sache nun so richtig interessant: Eine an die Geschlechtskategorien angelehnte Unterscheidung, die keinen Rekurs auf den Körper zuläßt. Sozusagen Gender, das kulturelle Geschlecht, in Reinform! Auch wenn die Zusammenhänge zwischen dem subkulturellen und dem gesamtgesellschaftlichen System erst untersucht werden müssen, so läßt sich doch eine überaus enge Beziehung vermuten, denn es ist im subkulturellen Kontext ohne weiteres möglich, die Bezeichnungen der Geschlechtskategorien direkt heranzuziehen:

Gerald sitzt an der Bar, Martin betritt das Lokal
Gerald sieht ihn und ruft: "Servus Kleine!"
Martin erwidert: "Grüß Sie, Frau Geraldine!"

Auch im folgenden Beispiel handelt es sich um die Situation, daß zwei Männer einander im Lokal begrüßen:

Karli betritt die Disco. Er sieht Ewald und begrüßt ihn: "Servus!"
Ewald breitet die Arme aus und ruft: "Endlich ein Mann!"

Selten, aber doch manchmal, führt die Verwendung der Geschlechterkategorien zu Verwirrung:

Martin: "Frauentag ist heute. Lauter Schwestern hab ich gesehen, keine Frauen... keine richtigen Frauen. Ich war auf der Mariahilfer Straße, das ist die neue Schwesternstraße.
Huber: "Die neue? Das war sie doch schon immer."

Wird aus schwuler Perspektive auf eine Einkaufsstraße geblickt, also über die Grenze der Subkultur hinaus, scheint plötzlich nicht mehr ganz klar, von welcher Gattung die Rede ist, wenn man von "Frauen" spricht.

Im Beobachtungszeitraum wurde eine Reihe unterschiedlicher Bezeichnungen erhoben, mit deren Hilfe schwule Männer sich selbst und andere in der Dimension von Weiblichkeit / Männlichkeit einordnen. Hier die Liste mit den Häufigkeiten:

Frau   17
Schwester   15
Tunte   7
Weib   5
Gredl   3
Schwuchtel   3
Dame   3
Fräulein   2
Tussi   1
Schwindlige   1
Mann   40
Kerl   4
Beidl   1

Innerhalb der beiden Klassen können viele der Begriffe synonym verwendet werden, jedoch haben sie durchaus unterschiedliche Nuancen, und die Wahl des Ausdrucks hängt wesentlich von der Situation ab bzw. trägt selbst zur Situationsdefinition bei. Während "Tunte" oder "Schwuchtel" eher einen Verweis auf einen sehr konkreten Personentypus setzt, wird die Bezeichnung als "Frau" vorwiegend scherzhaft eingesetzt - wohl deshalb, weil der Bruch mit ernsten gesamtgesellschaftlichen Konventionen ein scherzhaftes Elemtent schon in sich trägt und sich kaum als Basis für ernsthafte Erörterungen eignet.

Markus ruft quer über die Bar: "Gell, Gerald, du bist meine Ex-Frau!"
Gerald ruft mit hoher, gezierter Stimme zurück: "Nein, ich bin die Ex-Frau vom Sandor!"

Dies gilt in der Regel, trifft aber auch nicht immer zu, denn folgender Wortwechsel hatte z.B. einen ernsten Charakter:

Ferdinand zu Stefan: "Der Fred ist wenigstens ein Mann, was du nicht bist."
Stefan: "Ich bin kein Mann, oder was? Sehe ich wie eine Frau aus?
Ferdinand: "Ja!"
Stefan (einlenkend): "Deswegen sind wir ja da, weil wir alle Schwestern sind"
Ferdinand: "Du bist eine Schwester!"

Im schwulen Alltagswissen gibt es durchaus auch einige Unschärfen und Unklarheiten. Hier fällt beispielsweise auf, daß die beiden Beteiligten unterschiedliche Konzepte von "Schwester" haben dürften, denn während Stefan alle Schwulen in diesen Topf stecken will, zieht Ferdinand eine klare Trennlinie ein, und die verläuft zwischen seinem Barhocker und dem des anderen. Zu tun hat diese Unklarheit möglicherweise auch mit einem langsamen Bedeutungswandel des Begriffs "Schwester", der zu Krafft-Ebings Zeiten von homosexuellen Männern als Eigenbezeichnung ihrer Art verwendet wurde. Im Kontext Heterosexuelle / Schwule ist diese breitere Bedeutung auch heute noch anzutreffen, während im Kontext der Subkultur "Schwester" jedoch vorwiegend als Bezeichnung einer bestimmten Kategorie schwuler Männer gebräuchlich ist.

Kategorien sind ein kognitives Ordnungsschema, und die sich daraus ergebende Möglichkeit ist es, Klassifikationen aneinander vorzunehmen. An den bisherigen Beispielen ist schon deutlich geworden, daß in vielen Fällen mit dieser Möglichkeit bloß gespielt wird. Die Wortmeldungen sind oft scherzhaft, ironisch, selbstironisch, und die Teilnehmer vermitteln dabei auch mit vielen nonverbalen Mitteln den Eindruck, daß sie keineswegs vorhaben, sich nun mit den anderen ernsthaft darüber zu einigen, was wirklich Wirklichkeit ist:

An der Bar kehrt eine kurze Gespächspause ein. Bevor es ungemütlich wird, nickt Andreas in Richtung Hubert: "Der einzige Mann in der Firma."
Hubert hält ihm, wie zu Handkuß, die abgewinkelte Hand entgegen, und haucht: "Ja!"

Zusammenfassend kann bisher festgestellt werden, daß sich im Beobachtungsfeld ein subkulturelles Klassifikationsschema nachweisen läßt, das eine Unterscheidung zwischen einer weiblichen und einer männlichen Kategorie schwuler Männer herstellt. Die Nähe zum gesamtgesellschaftlichen System der Geschlechterklassifikation ist so groß, daß sogar dieselben Bezeichnungen verwendet werden. Und so wie bei den Geschlechtern sind auch die subkulturellen Kategorien dichotom angelegt, nämlich insofern, als beide Kategorien benannt sind, einander ausschließen und eine dritte Kategorie nicht auffindbar ist. Die Kategorien scheinen etabliert zu sein, was etwa daran zu ermessen ist, daß im Beobachtungszeitraum keine einzige explizite Erklärung dazu fällig geworden ist. Offen bleibt einstweilen die Frage nach der Relevanz und den praktischen Konsequenzen. Bereits hier - als Vorgriff auf die genauere Betrachtung der Alltagspraxis - muß hervorgehoben werden, daß die Handhabung der Unterscheidung zu einem großen Teil spielerisch erfolgt. Und das macht im Vergleich zu den Geschlechterverhältnissen nun doch einen gewaltigen Unterschied aus!


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1.2 Das Bild von Tunte und Kerl

Nun wäre natürlich interessant zu erfahren, ob diesen subkulturellen Kategorien bestimmte Wesens- und Verhaltensmerkmale zugeschrieben werden, etwa im Sinne eines Typus. Um das herauszufinden, wurden die Protokolle der teilnehmenden Beobachtung nach allen Aussagen durchsucht, die irgendeinen Hinweis darauf enthalten. Das können Aussagen sein wie die folgende, wo explizit typische Eigenschaften genannt werden:

Mario zu Heinz: "Typisch Frau! Dreht einem jedes Wort im Mund um!"

Häufiger jedoch sind Aussagen, bei denen nicht so ganz klar ist, ob eine zugeschriebene Eigenschaft auf die Person oder auf den Typus bezogen ist:

Gerald über den neben ihm stehenden Werner: "Er ist ja so ein Braver, mein Werner."
Werner nickt und grinst.
Gerald in einem gespielt strengen Tonfall: "Obwohl sie immer nur Männer im Kopf hat, die Wernerische!"

Interessant ist für die Auswertung einzig, ob eine Eigenschaft in einem Kategorienzusammenhang genannt wird. Im letzten Beispiel wurde also die Eigenschaft "brav" als irrelevant erachtet, die Eigenschaft "mannstoll" in Verbindung mit dem sprachlich vorgenommenen Geschlechtswechsel aber als relevant für die Kategorie gewertet. Sollten derartige Zuschreibungen einzig der Person, nicht der Kategorie gelten, könnte man annehmen, daß sie sich zufällig streuen und das Endresultat nicht grob verfälschen. Problematischer als die Auswertungsmethode ist die Gefahr, die Untersuchung vorschnell in eine bestimmte Richtung zu lenken, etwa in Richtung auf Stereotype einer subkulturellen Sozialordnung. Was sich mit der beschriebenen Methode finden läßt, sind verbreitete gedankliche Automatismen, Assoziationen, Phantasien - mit tatsächlich markanten Zügen -, doch es läßt sich auf diesem Weg nicht erschließen, welche Bedeutung und welchen Wert sie für die Teilnehmer haben. Daher bezeichne ich diese Vorstellungen auch lieber als Bilder, nicht als Typen. Nicht ganz unproblematisch ist in diesem Zusammenhang auch die Verwendung der Begriffe "Tunte" und "Kerl" als Arbeitsbezeichnung für die in der Subkultur vorgefundenen Kategorien. Jedoch: "Frau" und "Mann" würde Verwirrung stiften, und eine trockene Benennung in Form von Kategorie "A" und "B" erstrecht den fatalen Eindruck erwecken, das Klassifikationsschema sei in eine wissenschaftliche Ordnung überführt worden.

Nun zum Ergebnis. Der Übersichtlichkeit wegen sind die zugeschriebenen Eigenschaften drei thematischen Schwerpunkten zugeordnet, nämlich äußerliche Attribute, Sexualität und eine Restkategorie allgemeiner Eigenschaften. Nach Häufigkeit der jeweiligen Äußerungen geordnet ergibt sich folgendes Bild:

Allgemeine Eigenschaften:
Tunte
verlogen, verdreht, intrigant, gemein, bösartig 8
schwach, wehrlos, zimperlich, körperlich nicht aggressiv 7
eitel, (nur) Interesse an Mode, Schmuck, Schminke 5
eingebildet, arrogant 5
geschwätzig 4
auf den eigenen Vorteil bedacht, hart, geizig 3
unüberlegt, naiv, verliebt in Schnickschnack 3
hysterisch 2
geschickt 1
häuslich 1
verwirrt 1
lebenslustig 1
Kerl
kräftig, körperlich stark 6
ruppig, militärisch, proletarisch 3
tolpatschig, ungeschickt 2
körperlich aggressiv 1
handwerklich begabt 1
kann und mag Kartenspiele 1
eitel 1
treulos, flüchtig 1
   
Sexualität
Tunte
unattraktiv, häßlich, alt 13
rezeptiv beim Analverkehr 12
begehren sexuell Männer 11
sexbesessen, sexhungrig, nicht wählerisch 8
anale Aufnahme (großer) Gegenstände 7
unbefriedigt, sexuell bedürftig 4
sexuell passiv, unterwürfig 2
rezeptiv beim Oralverkehr 2
attraktiv 2
insertiv beim Analverkehr 1
Kerl
attraktiv 4
insertiv beim Analverkehr 4
begehren sexuell Männer 4
sexuell aktiv, dominant 1
unattraktiv 1
   
Erscheinung, Auftreten, Attribute
Tunte
Stöckelschuhe, Schminke, Straß, Rüschen etc. 11
graziöse Handbewegungen 10
Stimme hoch oder gehaucht oder kreischend 8
tanzend, tänzelnd 3
albern, kichernd, peinlich 2
Kerl
proletarischer Slang 2
tiefe Stimme 2
Bewegungen wie Boxer oder Bodybuilder 2
Faust auf den Tisch schlagen 2
schwerer, plumper Gang 2
tätowiert 1

Was sich vielleicht als erstes aufdrängt, ist ein Vergleich mit den Geschlechterstereotypen. Leider ist mit keine Untersuchung bekannt, die mit ähnlichen Methoden und unter vergleichbaren Umständen heterosexuelle Geschlechtervorstellungen erfaßt hätte, doch auch freihändig läßt sich hier ein vertrautes Bild von Frau und Mann erkennen - etwas überzeichnet, könnte man sagen, und in Hinblick auf das äußerliche Erscheinen auch etwas antiquiert. Ein Ende findet die Ähnlichkeit in sexuellen Belangen. Ginge man soweit, der inneren Logik dieser Bilder in der Frage ihrer Beziehungen zu trauen, dann zeigt sich eine merkwürdige Asymmetrie des Begehrens, denn abgesehen von der Zuweisung des rezeptiven und des insertiven Parts stellt sich kein so klares komplementäres Verhältnis ein, wie zwischen der schönen Frau und dem starken Mann nach dem klassischen heterosexuellen Konzept. Dem Kerl wird kein sexuelles Interesse an der Tunte zugeschrieben, diese wird mit Unattraktivität in Verbindung gebracht, zugleich auch mit einem gewaltigen sexuellen Appetit. Darüberhinaus offenbart sie eine interessante Doppelbödigkeit in der Art von "Jungfrau und Dirne": Je nach Wahl sehen wir eine graziöse, schwache, in Rüschen gehüllte Gestalt, penetriert von tätowierten Bodybuildern, oder aber ein gemeines, bösartiges und arrogantes Wesen, das in gewaltiger sexueller Gier nach Objekten zur analen Befriedigung verlangt, seien es nun Männer oder andere Dinge.

Gerald redet über einen kleinen Abstellraum: "Erstaunlich, was da alles Platz hat!"
Sigfried deutet auf Hubert: "Das ist wie ihr Arschloch, das schaut auch so klein aus, und dann hat so viel Platz."
Hubert: "Wie wenn man ein Soletti in den Turnsaal schmeißt"
Gerald lacht: "Soletti im Turnsaal..."
Hubert: "Andere nehmen japanische Liebeskugeln, ich fädle halt Tennisbälle auf."
Sigfried: "Basketbälle gehen auch."

Doppelbödig erscheint auch der Kerl. Einerseits wird hier wohl eine Art erotisches Idealbild der Männlichkeit gezeichnet, andererseits wirkt er gegenüber der schillernden Figur der Tunte ein wenig blaß und einfältig. Der Häufigkeit der Äußerungen in den beiden Kategorien ist zu entnehmen, daß er die Phantasie der Teilnehmer in einem weit geringeren Ausmaß beschäftigt als die Tunte dies tut.


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1.3 Unterscheidungsrelevanz und Status

Die Relevanz der Unterscheidung beruht in erster Linie auf sexuellen Interessen und schlägt sich im Bild der Tunte in Form ihrer Unattraktivität nieder. Zwar kann unmöglich davon ausgegangen werden, schwule Männer seien in der Beurteilung von Attraktivität und in ihrer Empfänglichkeit für sexuelle Reize allesamt einer Meinung und identisch, doch kommt in der Zuschreibung von Attraktivität und Unattraktivität eine deutliche Mehrheitshaltung zum Ausdruck, die ein maskulines Ideal favorisiert. Die Frage "Tunte oder Kerl" gewinnt Relevanz vorrangig über die Frage, ob jemand als Sexualpartner in Betracht kommt.

Gerald will Fred und Hubert im Spaß miteinander verkuppeln.
Hubert kühl: "Was zahlt er?"
Gerald lacht. "Pha! So ist die Alte! Was zahlt er - hörst du?!"
Hubert: "Außerdem steht er ja auf Männer, nicht auf Tunten." Dabei wirft er den Kopf in den Nacken und hebt die Hände in einer graziösen Pose.

In einer Subkultur, die sich zu einem wesentlichen Teil zur Befriedigung sexueller Interessen gebildet hat, liefert sexuelle Attraktivität einen ebenso wesentlichen Teil zum sozialen Status. Das ist nicht schwer zu erklären. Vorgegebene Machtstrukturen sind nur marginal vorhanden, die Verfügungsgewalt der Teilnehmer beschränkt sich im wesentlichen auf den eigenen Körper, sodaß vor allem der Gesichtspunkt der Funktionalität über den Status entscheidet. In dem Maß, wie das System auf den Austausch sexueller Befriedigung angelegt ist, wird sexuelle Unattraktivität disfunktional und mit einem geringen Status versehen. Natürlich gibt es jederzeit die Chance, sich anderweitig nützlich zu machen, indem man sich beispielsweise als glänzender Unterhalter erweist, und gegebenenfalls gibt es auch die Chance, ein Stück vom gesamtgesellschaftlichen Status in die Subkultur hinüberzuretten. Doch allgemein kann die sexuelle Attraktivität als Statusfaktor Nummer eins betrachtet werden, und in dem Maß, in dem die Unattraktivität der Tunte auf einem verbreiteten Urteil beruht, erwächst daraus ein Statusnachteil.

Gerald spricht mit Helmut über Christian: "Du kennst ihn sicher. Er ist oft in der Disco unten. Eine Schwester, aber fesch. Groß, dunkelhaarig. Und er kann gut tanzen."

Ziemlich offensichtlich steht "Schwester" zu "fesch" in einem subtraktiven Verhältnis. Ein besonders anschauliches Beispiel von "Status" liefert folgende Beobachtung:

In einer Runde von sieben Personen bringt Kurt die Idee vor, das Spiel "Kuhhandel" als "Männerhandel" für schwule Verhältnisse zu adaptieren. Bei dem Spiel handelt es sich um ein Quartett, bei dem Spielkarten mit Bildern von Nutztieren getauscht werden, wobei Pferde, Kühe, Schweine etc. mit unterschiedlicher Punktezahl gewertet sind. In der Version vor Kurt gäbe es dann statt dem Huhn die "Politschwester" mit mageren 5 Punkten, oder die "Kulturschwuchtel" mit auch nicht viel mehr.
Rene schlägt vor: "Die Krankenschwestern"
Dann fragt Rene: "Und was sind die hochwertigen Karten? Das sind ja bis jetzt alles die niederen Karten."
Emil: "Die Heteros"
Rene seufzt: "Die unerreichbaren Heteros..."
Kurt: "Die Kerle! Einfach die Kerle! Tausend Punkte für einen Kerl!"

Vor dem Hintergrund einer ausreichend verbreiteten Bewertung sexueller Qualitäten wird in der schwulen Subkultur die Kategorie der Tunte zu einer Kategorie des sozial Unerwünschten. Die Einordnung von Personen in diese Kategorie trägt eine Abwertung in sich, die so weit geht, daß sie zur Beschimpfung verwendet werden kann. Dieser Status ist nun ein allgemeines soziales Phänomen, das nichts mehr mit den sexuellen Präferenzen des einzelnen zu tun hat, und das in allen sozialen Situationen zur Geltung kommt, nicht nur in Hinblick auf die Wahl eines Sexualpartners. In einer schwulen Bar jemanden als Tunte oder als Kerl zu bezeichnen, weist eine Position in einer kollektiven Statushierarchie zu, die von den Teilnehmern gewußt wird.


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1.4 Alltagstheorien und Anwendungsprobleme

Wenn es sich bei Tunte und Kerl um ein sozial relevantes Klassifikationsschema handelt, müßte einiges an praktischem Wissen zu seiner Handhabung vorhanden sein. Allem voran: wie erkannt man, ob jemand eine Tunte oder ein Kerl ist? Die im vorletzten Abschnitt unter dem Schwerpunkt "Erscheinung, Auftreten, Attribute" genannten Merkmale geben bereits einen recht guten Überblick, wonach dabei Ausschau gehalten werden kann. Von Interesse ist beispielsweise die Art, wie eine Person sich bewegt:

Christoph: "Ich werde jetzt nach Hause fahren"
Eduard: "Du kannst jetzt noch nicht fahren - du hast doch gesagt, du willst einen Mann kennenlernen!"
Christoph: "Wer ist hier ein Mann?"
Eduard deutet auf Gottfried: "Der da. Das ist ein richtiger Mann."
Gottfried grinst verlegen.
Christoph: "Der, ein richtiger Mann? Woher willst du das wissen?"
Eduard: "Das merkt man. An der Art."
Christoph lacht spöttisch und wedelt graziös mit der Hand.
Gottfried gekränkt: "Aber gehen tue ich schon männlich!"

Eine Auswertung des Beobachtungsmaterials in Hinblick auf Äußerungen, die einen Hinweis auf das Problem der Identifizierung geben, zeigt, daß am häufigsten Aspekte der Körpersprache beobachtet werden.

körpersprachliche Kriterien:   Art des Gehens   3
    Art des Sprechens, Stimme   3
    Art der Handbewegungen   2
    Art zu tanzen   1
andere Kriterien:   Auffassungen, Persönlichkeitseigenschaften   2
    Part beim Analverkehr   2

Für die meisten Menschen ist es schwieriger, über ihre Körpersprache eine ähnliche bewußte Kontrolle zu erlangen wie über den verbalen Ausdruck Unmöglich ist es jedoch keinesfalls, wenn man weiß, worauf es ankommt.

Erwin im spielerischen Streit mit Hubert: "Kusch!"
Hubert: "Spielst du jetzt auf Kerl?"
Erwin stemmt die Ellbogen auf die Bar, zieht den Kopf zwischen die Schultern, reckt herausfordernd das Kinn vor und knurrt im tiefsten Dialekt: "Wos is?"
Hubert schnippisch: "Das kannst du ja gar nicht. Das gelingt dir nicht."

Nun gut, in diesem Fall ist es nicht gelungen - es war ja auch kein ernsthafter Versuch. Interessant an dem Beispiel ist unter anderem, daß die Teilnehmer von der Möglichkeit des "auf Kerl spielen" wissen und dies auch thematisieren. In der schwulen Alltagstheorie erscheinen Tunte und Kerl als Formen des Seins, als beständige, von irgendwelchen höheren Mächten gegebene Qualitäten, nicht als Angelegenheit der eigenen Wahl. Davon unterscheiden die Teilnehmer die bewußt erzeugte Selbstdarstellung, und darin, diese beiden Dinge auseinanderzuhalten, liegt gewissermaßen die alltagspraktische Herausforderung für die anderen.

Neben dem Problem der Identifizierung gibt es noch ein konzeptionelles Problem, das weit schwerer wiegt. Das Bild von Tunte und Kerl erstreckt sich über verschiedene Merkmalsbereiche, wie das Auftreten, das Sexualverhalten und diverse Aspekte der Persönlichkeit. Anders als bei den Geschlechtern gibt es darin kein Merkmal, das in diesem Konglomerat von Eigenschaften eine herausragende definitorische Zuordnungskraft besäße, so wie die Genitalien von Frau und Mann. Die können zwar im Alltag auch nicht so leicht überprüft werden, doch allein ihr Vorhandensein vermittelt den Gesellschaftmitgliedern die beruhigende Gewißheit, daß ihr System auf tiefer Evidenz beruht. Wenn eine Person in irgendwelchen Aspekten den Erwartungen an sein Geschlecht widerspricht, ist es immer noch möglich, von einem "femininen Mann" oder einer "maskulinen Frau" zu sprechen, ohne die Richtigkeit der Geschlechtsklassifkation in Frage zu stellen. Im Falle von Tunte und Kerl geht das nicht so einfach, sobald ein Stück aus der Komposition herausfällt, beginnt das ganze Konzept brüchig zu werden. Man könnte nun auf dem Gedanken kommen, die im Bild von Tunte und Kerl so eindeutig zugeordnete Rollenverteilung beim Analverkehr hätte die Stelle eines definitorischen Merkmals inne. Tatsächlich geht es hierbei um eine mächtige Symbolik, auf die später noch eingegangen werden wird. Im abgeklärten Realismus nach einem langen Abend an der Bar wird diesem Gesichtspunkt aber wenig Aussagekraft zugemessen:

Willi: "Ich geh jetzt. Ich geh in ein Lokal, wo mehr Männer sind."
Hubert: "Das mußt du mir zeigen, das Lokal. Heutzutage gibt es keine Männer mehr. Nur mehr fickende Weiber."

Die darin enthaltene Skepsis, ob es den Kerl überhaupt gibt, tritt an mehreren Stellen des Beobachtungsmaterials zu Tage, sehr deutlich etwa im folgenden Beispiel:

Andreas und Martin unterhalten sich, wie die Welt wohl in hundert Jahren aussehen mag.
Andreas: "Vielleicht gibt es dann keine Schwulen mehr."
Martin: "Vielleicht gibt es dann nur mehr richtige Männer, wenn es keine Schwulen mehr gibt."
Andreas: "Aber davon hast du dann nichts mehr."

Der Gedanke, daß schwule Männer keine "richigen" Männer seien, kann unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierung betrachtet werden: als Selbstdiskriminierung schwuler Männer, die ihre vollwertige Männlichkeit bezweifeln, oder als Diskriminierung seitens der Gesamtgesellschaft, die schwulen Männern dieses Selbstbewußtsein vorenthält. Ein solcher Gesichtspunkt beinhaltet, daß die gesamtgesellschaftliche Konzeption von Männlichkeit etwas Erstrebenswertes wäre, was ja nicht unbedingt vorausgesetzt werden muß. Bedeutsam für den engeren Blick auf die Subkultur ist, daß ein solcher generalisierter Zweifel an der Männlichkeit die Position des Kerls fragil werden läßt. Er scheint sich von der Tunte nicht absolut, sondern nur relativ in nicht näher spezifizierten Merkmalen zu unterscheiden. Nachdem es zwar dichotome Kategorien, aber kein eindeutig dichotomes Merkmal gibt, beginnt die Unterscheidung zu verschwimmen. Bisweilen wird sie daher auch als eine Frage des Mehr-oder weniger behandelt:

Gerald über Hubert: "Da ist ja der Werner ein Bergarbeiter dagegen." - Pause - "Der hat auch manchmal etwas Schwindliges, aber das stört mich nicht."
Andreas: "Ja, wenn er was getrunken hat. Da wird er dann schon ein bißchen..." - lacht.

Das läuft auf die Vorstellung eines Kontinuums hinaus, in dem sich die Teilnehmer nach Qualitäten wie "schwindlig" verorten, relativ zueinander und mit graduellen Abstufungen. In diesem Sinn lassen sich auch die Steigerungsstufen verstehen, die in der Kommunkation mitunter auftauchen:

Vollschwester, Paradeschwester
totale Tunte, totale Frau
größte Tunte, größte Frau
richtiger Mann
totaler Kerl, totaler Mann
Über-Macho

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Konzept von Tunte und Kerl eine Art idealtypischer Orientierung bietet, deren alltagspraktischer Wert durch den Umstand gemindert wird, daß ein klares Kriterium für die Zuordnung fehlt, und die als Indikatoren herangezogenen Merkmale der Körpersprache als manipulierbar und unverläßlich gelten müssen.


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1.5 Praktische und phantastische Konzepte

Selbst ein alltagspraktisch relativ untaugliches und unscharfes Klassifikationssystem kann als Orientierungshilfe in der Welt von Nutzen sein. Kategorien beinhalten eine Simplifizierung, und spätenstens seit Luhmann wissen wir über den Wert der Reduzierung von Komplexität. Nehmen wir etwa folgendes Beispiel:

Gerald, Alfred und Fred reden über den nicht anwesenden Andreas.
Gerald: "Ein liebes Lachen hat er ja."
Kurze Pause.
Gerald: "Hysterisch ist sie, das wissen wir eh. Aber ein liebes Lachen hat sie."

Man beachte hier den vom "lieben Lachen" auf "hysterisch" vorgenommenen Geschlechterwechsel. Interpretieren läßt sich das so, daß in Geralds Weltbild "hysterisch" einer weiblichen Kategorie zugeordnet ist, und er diese Kategorie auf Andreas zur Anwendung bringt, um sich dessen hysterische Eigenarten erklärlich zu machen. Der Beitrag solcher Typisierungen zum Verständnis der Welt mag bescheiden und irgendwie tautologisch erscheinen, aber er ist nachvollziehbar. Doch nur in einem kleinen Teil des Beobachtungsmaterials ist ein solcher Nutzen erkennbar. In den meisten Fällen wird nämlich gespielt, ohne daß es dabei um Weltdeutung ginge, in manchen Fällen hat es fast den Anschein, als würde dabei eine neue, phantastische Welt errichtet.

Gerald: "Prost Männer!"
Florian: "Prost!"
Hubert: "Ich sehe hier keine Männer - außer´m Karli da."
Gerald: "Männer. Der liebe Gott hat uns ja was zwischen die Beine gegeben."
Hubert: "Wenn´s bei dir ein Zentimeter weniger gewesen wäre, dann könnte man jetzt Prinzessin zu dir sagen."

In spielerisch-phantastischer Form wird hier das Problem gelöst, wie eine Person mit einem Penis eine Frau sein kann. Der Penis wird bagatellisiert, erscheint nicht mehr der Rede wert. Anstelle der weiblichen Vagina wird der Anus zum Geschlechtsorgan gemacht, als Quelle der sexuellen Erregung und Ort der Befriedigung. Wenn die Dimension der in Betracht gezogenen Objekte einen Schluß auf die Dimension der Lust erlaubt, dann muß diese gewaltig sein.

Andreas zu Manfred: "Was zappelst du denn herum? Setz dich hin und gib eine Ruh! Was ist denn los mit dir?
Manfred: "Nix ist los!"
Martin: "Unbefriedigt ist sie!"
Fritz: "Setz dich draußen auf einen Hydranten und gib eine Ruh!" - lacht laut.

Da sich dieses Geschlechtsorgan nicht durch sein bloßes Vorhandensein, sondern erst durch den Gebrauch zu erkennen gibt, erfährt der Analverkehr eine symbolische Überhöhung. Er wird gewissermaßen geschlechtsbestimmend. Daher auch die vielen Anspielungen darauf, wer was wohin steckt:

Gerald und Andreas bauen eine Öllampe zusammen und sind uneins, von welcher Seite der Docht hineingesteckt wird.
Gerald: "Diese Frauen! Ich weiß, wo man was hineinsteckt!"
Martin: "Du weißt höchstens, wo man was hineingesteckt bekommt!"

Gespielt wird hier nicht mit der Differenz von Tunte und Kerl, sondern mit der Differenz der Geschlechter. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen: Im alltagspraktischen Verständnis der Teilnehmer sind Tunte und Kerl, Mann und Frau verschiedene Kategorienpaare. Zwar wird hier wie dort nach "weiblich" und "männlich" unterschieden, und die Zuschreibung von Eigenschaften scheint recht ähnlich, doch wird die Geschlechterklassifikation als übergeordnete Kategorie akzeptiert. Also: Es gibt Frauen und Männer, unter den Männern gibt es schwule Männer, und unter diesen gibt es Tunten und Kerle. In der spielerisch-phantastischen Konzeption werden die Körper neu definiert, sodaß die Ebenen der Klassifikation zusammenfallen und es nur noch Männer und Frauen gibt. Die phantastische Neukonzeption der Kategorien entfaltet manchmal sogar eine beeindruckend konsequente Logik. Beispielsweise wird richtig erkannt, daß eine Person mit einem weiblichen Geschlechtsorgan, die sich zu Männern hingezogen fühlt, schwerlich homosexuell sein kann. Homosexuell wäre sie dann, wenn sie sich zu Frauen hingezogen fühlen würde. Dann nämlich wäre sie lesbisch:

Erwin hat Hubert im Spaß angebrüllt, nun spielt Hubert den Beleidigten.
Erwin einschmeichelnd: "Hubert, komm her zu mir!"
Willi: "Sie ist ja nicht lesbisch."

Gegenüber der zu Anfang angelegten Perspektive eines subkulturellen Klassifikationssystems stellt eine derartige Interpretation einen völlig anderen Ansatz dar. Zum Verständnis der Vorgänge in der Subkultur scheint es notwendig, zwei Kontextebenen in Betracht zu ziehen: Einerseits existiert ein alltagspraktisches Konzept von Tunte und Kerl, mit Hilfe dessen die Teilnehmer einander als Typen wahrnehmen, Verhaltensmuster als typisch zu erklären versuchen, Erwartungen aufbauen, und Status vergeben. Andererseits werden in einem größeren Kontext von Sexualität & Geschlecht Phantasmen entwickelt, die de facto auf eine spielerische Neukonstruktion des Geschlechts hinauslaufen. Sie beruhen nicht auf einem kollektiv entwickelten und gepflegten Wissensvorrat, sondern wären viel eher jenen Freiräumen zuzuordnen, die viele Kulturen sich schaffen, um in Form von Fiktionen, Unterhaltung und Kunst nicht nur Wissen, sondern auch Emotionen zu teilen.

Bei der Betrachtung der Vorgänge in der Subkultur ist es sehr schwierig, diese beiden Aspekte zu trennen, denn weder die Wortwahl der Teilnehmer noch der Interaktionsmodus erlaubt eine eine klare Zuordnung. Die Dinge laufen parallel, im Vordergrund steht die alltagspraktische Befaßtheit, doch je mehr diese in der Unverfänglichkeit der Spiele reduziert wird, desto deutlicher zeigt sich ein im Hintergrund bestehendes Interesse, das nicht Tunte und Kerl, sondern Frau und Mann gilt.


Inhaltsübersicht

  Einleitung
1. Schwules Alltagswissen
1.1 Begriffe und ihre Ordnung
1.2 Das Bild von Tunte und Kerl
1.3 Unterscheidungsrelevanz und Status
1.4 Alltagstheorien und Anwendungsprobleme
1.5 Praktische und phantastische Konzepte
2. Schwule Alltagspraxis
2.1 Interaktionsformen
2.2 Ernsthafte Verhandlung
2.3 Diskriminierung
2.4 Strategien
2.5 Spiele
3. Erklärungssuche
3.1 Bestehende Thesen
3.2 Kindheit, Geschlecht, Begehren
3.3 Erotische Interaktion
3.4 Erotische Interaktion und Gesellschaft
3.5 Schlußfolgerungen
4. Forschungsmethode
4.1 Teilnehmende Beobachtung
4.2 Befragung
4.3 Forschungsprozeß
  Literatur
 
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