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Kein Autofahrer käme auf die
Idee, von Turnau aus auf die Veitsch zu gehen.
Oder von der Veitsch nach Mürzzuschlag zu
wandern. Die Wahl öffentlicher Verkehrsmittel
erzwingt jedoch manchmal unkonventionelle Routen
und man lernt dabei Gegenden kennen, die man
sonst nie im Leben kennengelernt hätte. Sonntag
pünktlich um 7:02 fuhren Alois,
Christian, Frankie, Igo, Jochen, Martin, Oliver,
Peter, Ronny, Thomas und Thomas
mit dem Railjet von Wien Meidling ab. Eine bunt
zusammengewürfelte Runde aus Wienern,
Oberösterreichern, Tirolern, Deutschen und
kosmopolitischen Quermischungen. Ankunft
Kapfenberg 08:50. Das kurze Wegstück vom Bahnhof
zur Bushaltestelle war einigen noch von der Hochschwab-Tour
in Erinnerung, ebenso die 70er-Jahre-Architektur
am Kapfenberger Europaplatz und der Eierautomat.
Bus um 09:15, Ankunft um 09:50 in Turnau (780m).
Der Ortskern hatte sich das Flair alter
Heimatfilme bewahrt und es herrschte viel
Betrieb, vermutlich weil alle gerade vom
Kirchgang kamen. Wie gewohnt zogen die Männer
auf Touren unverzüglich los, einem Bach entlang
nach Norden und dann den Berg hinauf.
Das Wetter war halb sonnig, halb wolkig bei
angenehmster Wandertemperatur, aber laut Prognose
war die Wetterlage instabil und die
Regenwahrscheinlichkeit betrug 98%. Man konnte
den Quellwolken beim Quellen zusehen. Der
stabilen Gemütsverfassung der Teilnehmer konnte
das nichts anhaben und gut gelaunt wurden
Höhenmeter gemacht. Bei einer Weggabelung um
10:45 wurde eine zehnminütige Verschnaufpause
eingelegt. "Wenn die Fliegen so lästig
sind, heißt das, es kommt ein Gewitter."
"Wenn sie nur hier lästig sind, gibt es nur
hier ein Gewitter. Gehen wir weiter."
Ob der Weg sanft oder steil anstieg, ist eine
Frage der Definition, wobei die Maßstäbe für
"steil" erst später am Tag gesetzt
wurden. Der erste Teil der Strecke verlief
durchwegs durch Wald und westlich des Kamms, was
mit sich brachte, dass das eigentliche Ziel der
Wanderung lange Zeit völlig unsichtbar blieb.
Erst beim Überschreiten des Kamms auf der
Osterer Alm ("Das ist ja Ostern und
Pfingsten an einem Tag!") kam die Veitsch
ins Blickfeld - ernüchternd weit weg. Von nun an
bekam die Tour mehr den Charakter einer
Almwanderung, die bewaldeten Abschnitte wurden
seltener.
Auf der Osterer Alm gab es keine
Gastwirtschaft, also wurde vor der nächsten
Anhöhe eine Jausenpause auf der grünen Wiese
eingelegt. Alle hatten reichlich eingepackt,
Martin speise besonders komfortabel auf einem
Klappsessel. Nach 20 Minuten ging es wieder
weiter hinauf auf den Hochanger (1682m), wo es
die erste Begegnung mit größeren Schneefeldern
gab. Die grasige Kuppe war jedoch schneefrei und
bot eine schöne Rundsicht. Imposant hob sich der
Ötscher hervor. Ein angepeiltes Gruppenfoto
scheiterte daran, dass das Wort
"Gasthaus" die Runde gemacht hatte und
die ersten es nicht erwarten konnten, die 250m
Abstieg zur Stroblhütte auf der Göriacher Alm
(1429m) in Angriff zu nehmen. Ankunft 13:45 und
Einkehr. "Gibts a Bier?"
"Ja." "Radler?"
"Ja." "Apfel Leitung?"
"Apfelleitung hamma net."
Weiter nun im Bogen nach Osten. Bei der etwas
unterhalb des Wanderwegs gelegenen Turnauer Alm
schien es sich um eine Art alpines
Techno-Drive-in zu handeln, denn Bassgehämmer
und Gegröl hallte über die Almwiesen und eine
Menge Autos standen um die Hütte herum. Alles
gute Gründe, um daran vorbeizuziehen. Das Ziel,
die Veitsch, war nun wieder aus dem Blickfeld
verschwunden, was zu Verunsicherung führte und
die Vorhut hätte beinahe die Besteigung des
Rauschkogels als nächste sichtbare Erhebung in
Angriff genommen. Der richtige Weg führte jedoch
nach Osten über eine Wiese und dann wieder ein
Stück durch Wald. Um 16:30 war das Nikolokreuz
(1413m) erreicht. Es nieselte leicht, doch das
Auspacken des Regenschutzes zahlte sich nicht
aus, denn ein paar Minuten später schien wieder
die Sonne. Die Hohe Veitsch war am Wegweiser mit
2½ Stunden angeschrieben, wie schon eine Stunde
davor. Das Ziel war nun wenigstens wieder in
Sicht - und zwar nah, hoch und steil. "Es
sind nur mehr 400 Meter bis zur Hütte."
"Was?! Nur mehr 400 Meter?" "Er
meint Höhenmeter." Das Weiterkommen vom
Nikolokreuz war nicht so einfach, denn der
Wegweiser deutete vage in den Wald hinein und
dort war keine Markierung und kein Weg zu
entdecken, nur eine Schneerinne. Nach einigem
Herumirren im Gebüsch und Hochkrabbeln im Schnee
wurde eine Markierung erspäht, von da ging es
relativ eindeutig und ohne Schnee weiter zur
Hochwiese unterhalb eines eindruckvollen
Steilhangs.
Ob der Teufelssteig seinen Namen daher hat,
dass der Teufel (Rotsuhler) sich hier
herumtreibt, oder weil er teuflisch steil ist,
bleibt der Deutung überlassen. Zwar weist der
Steig keine Schwierigkeiten auf, aber gnadenlos
geht es durch eine Latschengasse einen scheinbar
endlosen Hang hinauf. Durch eine Gratlücke
gelangt man auf die Hochfläche, wo man bald den
monströsen Pfeil an der Bergstation der
Materialseilbahn sieht, der als Warnung für
Segelflieger gedacht ist. Ankunft im Graf Meran Haus (1836m)
grüppchenweise zwischen 17:30 und 17:50, womit
die beim Nikolokreuz abhanden gekommene Stunde
auf wundersame Weise wieder gewonnen war. Nach
Ausgleich des Flüssigkeitsverlusts wurde ohne
Gepäck der 20 Minuten entfernte Gipfel (1981m)
in Angriff genommen. Die Fernsicht war durch das
diesige Wetter etwas beschränkt. Eine
Orientierungstafel erleichterte die
Identifikation der Berge. Hochschwab, Ötscher,
Göller, Schneealpe und Rax waren auch ohne diese
Hilfe gut zu erkennen. Am Rückweg zur Hütte
erwiesen sich die im Aufstieg etwas hinderlichen
Schneefelder als angenehme Abstiegshilfe.
Zurück im Graf Meran Haus stand als nächstes
das Stillen des Hungers am Programm. Trotz
Anmeldung war für die Gruppe gerade noch ein
Schweinsbraten über, den sich Frankie und Peter
teilten. Die anderen konnten mit gedämpfter
Begeisterung zwischen zwei Suppen, Würsten und
Broten wählen. Die kulinarische Enttäuschung
wurde durch die netten Wirtsleute abgefedert. Das
Outing der Gruppe erfolgte spätestens bei der
Zimmeraufteilung: Die Pärchen sollten in die
Zweierzimmer bzw. ins Lager, die Singles ins
Viererzimmer mit der Auflage, "brav" zu
sein. Und alle sollten die Türen schließen,
wenn sie keinen nächtlichen Besuch (durch die
Hüttenkatze) wünschten.
So um halb neun begannen die Vorbereitungen
für die Nacht. Wasser zum Zähneputzen konnte in
der Küche erworben werden, denn im Waschraum
standen nur ein paar Kübel mit Wasser herum, bei
dem nicht so recht klar war, wofür es bisher
schon benutzt worden war. Igo bemerkte beim
Aufstehen, dass er die ganze Zeit auf einem
Kaugummi gesessen hatte, der inzwischen eine
innige Verbindung mit seiner Hose eingegangen
war. "Das ist mir das letzte Mal in der Oper
passiert." Beim Schlafengehen irrte er sich
in der Zimmernummer und bekam die Suite in Form
eines unbenutzten Lagers für sich alleine.
Ob alle "brav" waren, ist nicht
bekannt, jedenfalls gab es am Morgen des Montag
keine Beanstandungen. In Hinblick auf die nicht
allzu rosige Wetterprognose und das üppige
Tagesprogramm war das Frühstück bereits für 7
Uhr bestellt worden. Klassisch Brot, Butter,
Marmelade, Kaffee oder Tee. Wer wollte, konnte
Nachschlag haben. Schon um 07:45 stand die Gruppe
abmarschbereit vor der Hütte.
Über die nächste Hügelkuppe ging es gegen
Osten. Dieser Marsch über die baumlosen Wiesen
und Schneefelder des Hochplateaus war sicher der
landschaftlich faszinierendste Teil der Tour. Das
durch hochliegende Wolken gedämpfte, milchige
Sonnenlicht brachte zusätzlich einen Hauch von
Unwirklichkeit in die Landschaft. Um 10 Uhr war
die Kleinveitschalm (1451m) erreicht, eine
idyllisch gelegene Ansammlung kleiner Hütten am
östlichsten Ausläufer des Plateaus. In der
Grundbauernhütte gab es die Möglichkeit für
ein zweites Frühstück. Das Angebot war
reichlich und gut, einschließlich üppiger
Torten. Thomas wollte wissen, was ein Rahmkoch
ist - es handelte sich um eine recht schmackhafte
und sicher auch nahrhafte Mehlspeise in
Bröselform.
Um 10:35 ging es weiter. Bergauf und bergab,
mal auf Forststraßen, mal auf Fußpfaden, auf
Fels, Schotter, Wurzeln oder Fichtennadeln, über
Anhöhen und durch Senken, mal nach Süd, mal
nach Nord, tendenziell nach Ost. Der dominierende
Eindruck war der von bewaldeten Hügeln mit einem
Boden voller Heidelbeersträucher. Obwohl der
Wegverlauf dem Prinzip des geringsten
Höhenverlusts folgte, waren beträchtliche
Steigungen zu überwinden und die ständigen
Richtungsänderungen brachten bei manchen das
Gefühl hervor, im Kreis zu gehen. Auch die
Aussichten trugen dazu bei, denn einmal war die
Veitsch zu sehen, dann die Schneealpe, dann
wieder ein überhaupt nicht zuordenbarer Berg.
Etwa alle zwei Stunden wurde eine Alm mit
ausgedehnten Wiesen durchquert: 12:45 Hocheckalm
(1320m) mit Blick auf die Veitsch und den
Hochschwab. Über dem Hochschwab hingen dunkle
Wolken mit Regenschleiern darunter, während sich
an anderen Stellen des Himmels noch blau zeigte.
14:30 Malleistenalm (1265m), wo sich die Kühe in
der Wiese sonnten.
Das nächste Ziel und die nächste
Einkehrmöglichkeit war die Kaarlhütte, deren
Schweinsbraten weithin gerühmt wird. In
der Phantasie der Teilnehmer, von denen der
Großteil unter dem Mangelerlebnis des letzten
Abends litt, wurde daraus der beste
Schweinsbraten der Steiermark, wenn nicht gar der
ganzen Welt, und Schweinsbraten als solcher zum
beherrschenden Gesprächsthema. "Wir reden
ständig über Schweinsbraten, aber wir essen
keinen", stellte Jochen fest. "Das ist
fast so ähnlich wie mit Sex." An zwei
Stellen des Wegs gab es Abzweigungen nach
Krieglach mit verlockenden Gehzeitangaben von 3
bzw. 2 Stunden, anstelle der ungewissen Gehzeit
zur Kaarlhütte und weiter nach Mürzzuschlag.
Krieglach wäre tatsächlich eine Alternative
gewesen, die ein paar Teilnehmer schon in
Erwägung zogen. Neben der zusätzlichen
Umsteigekomplikation mag vielleicht auch die
Schweinsbratenfrage den Ausschlag gegeben haben,
dass alle der Gruppe treu blieben und weiter
gegen Osten zogen.
Die Kaarlhütte (1314m) wurde
schließlich um 16:45 erreicht. Das war genau 9
Stunden nach dem Aufbruch vom Meranhaus. Die
schlimmste Befürchtung, der Schweinsbraten
könnte aus sein, trat nicht ein. Jedoch gab es
eine Komplikation, denn die Wirtsleute hatten
nicht mehr mit dem Eintreffen so hungriger Gäste
gerechnet und der Küchenofen musste erst wieder
hochgefahren werden. Das dauerte seine Zeit. Die
Schweinsbratenesser des Vortags gaben sich
bescheiden: Peter bestellte nur eine kleine
Portion und Frankie entsagte gänzlich und
inspizierte stattdessen den 10 Minuten entfernten
Kreuzschober-Gipfel (1410m).
Bis das Essen am Tisch stand, war es 17:45.
Das war nahe an der Zeit, die als Abmarsch
geplant war, um den Zug um 19:34 in Mürzzuschlag
zu erwischen. Daher wurde der Genuss von einer
Spur Hektik getrübt, der Schweinsbraten selbst
wurde den Erwartungen voll gerecht. Ein von den
sehr netten Wirtsleuten spendiertes Schnapserl
verlieh den doch schon etwas erschöpften
Tourenmännern im Endspurt auf Mürzzuschlag
Flügel, denn sie schafften es in 1:15 den Berg
hinunter und zum Bahnhof, 15 Minuten vor
Zugabfahrt. Der Railjet nach Wien war
erwartungsgemäß ausgelastet und bedingte eine
Verteilung der Gruppe auf die wenigen freien
Sitzplätze in verschiedenen Abteilen und
Waggons.
Gehzeit (unter Abzug
längerer Pausen) am Sonntag 7 Stunden bei einer
Streckenlänge von etwa 20km, 1550m Aufstieg,
500m Abstieg. Am Montag 9 Stunden Gehzeit,
Streckenlänge 30km, 650m Aufstieg, 1800m
Abstieg.
Die Tour war strapaziös, nahe am Limit des
Machbaren, und gerade deshalb wird sie den
Teilnehmern gewiss lange in Erinnerung bleiben.
Es gab ein paar Verirrungen, die aber immer
frühzeitig entdeckt wurden. Teilweise war der
Weg gut, teilweise gar nicht markiert,
gelegentlich etwas zugewachsen oder durch
umgestürzte Bäume blockiert. Auf den Karten
nicht verzeichnete Forststraßen sorgten für
manche Unsicherheit. Die Bewirtung auf allen vier
besuchten Hütten war ausgesprochen freundlich.
Das Wetter spielte Wunderstücke. Während
ringsum blaugraue Wolken mit Regensäulen
beobachtet werden konnten, wurde der Weg der
Männer auf Touren von kaum einem Tropfen
benetzt. Eine Wetterhexe in der Gruppe oder
Beistand von oben?
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