Essay
Wenn Sie noch nie verliebt waren, dann werden Ihnen meine Ausführungen erscheinen wie ein Bericht von einem anderen Stern. Wenn Sie gerade verliebt sind, wird es Sie vielleicht interessieren, was sich zu dem Thema sagen läßt. Wenn Sie jemals verliebt waren, wird es vielleicht Erinnerungen wecken.
Den klügsten und einfühlsamsten Text zu dem Thema hat Stendhal 1822 geschrieben: "Über die Liebe". Die wichtigsten Beobachtungen und Einsichten verdanke ich ihm. Ich gebe sie hier bloß aus heutiger und persönlicher Sicht weiter.
Unter den vielen Arten der Liebe geht es hier ausschließlich um die sexuell gefärbte Liebe Erwachsener, die sich ihrerseits grob in drei Klassen unterteilen läßt:
1. Die sexuelle Anziehung, das sexuelle Begehren. Menschen können es aneinander befriedigen und danach auseinandergehen, ohne daß über die sexuelle Erregung hinaus Gefühle oder eine Bindung entstünden.
2. Die Verliebtheit. Sie ist ein sehr spezifischer Gefühlszustand, gekennzeichnet durch emotionalen Aufruhr und einer Verschiebung der Prioritäten. Plötzlich erscheint alles interessant, was mit dem einen begehrten Objekt zu tun hat, andere Lebensbezüge verblassen im Vergleich dazu. Leidenschaftliche Liebe ist eine Steigerung der Verliebtheit zu dem Punkt, an dem überhaupt nur noch die Liebe und sonst gar nichts zählt.
3. Die partnerschaftliche Liebe, beruhend auf einer im Laufe der Zeit gewachsenen Bindung. Sie kann aus den zwei zuvor genannten Arten hervorgehen oder auch rein vernunftmäßig begründet werden, ihr Gefühlszustand ist in jedem Fall ein völlig anderer.
Den Anfang bildet ein kurzer Moment der Bewunderung. Am einprägsamsten ist dieser Moment, wenn er bei einer neuen Begegnung und unerwartet stattfindet: in irgendeiner Situation steht Ihnen plötzlich ein Mensch gegenüber, von dessen Gesicht, Charme oder sonstigen Reizen eine augenblickliche Anziehungskraft ausgeht. Später werden Sie sagen, es war Liebe auf den ersten Blick. Ebensogut kann der Moment der Bewunderung sich aber auch einstellen, nachdem Sie einen Menschen schon sehr lange kennen. Vielleicht sehen Sie ihn einmal mit nassen Haaren, oder es fällt Ihnen ein reizendes Lächeln auf, das Sie nie bemerkt haben, ein guter Körperbau, ein besonderes Talent, Charisma, was auch immer. Für einen kurzen Moment werden Sie ihn anerkennend betrachten - ohne dem besondere Bedeutung beizumessen.
Zu unserem großen Glück verlieben wir uns nicht automatisch in jeden attraktiven Menschen, der zufällig unseren Weg kreuzt. Dazu bedarf es der Hoffnung. Auch zu ihrem Entstehen reicht ein kurzer und scheinbar nebensächlicher Moment. Vielleicht bemerken Sie einen Blick, der etwas länger an Ihnen hängenbleibt, oder Sie gewinnen den Eindruck, daß jemand Ihre Nähe sucht. Es gibt viele kleine Signale, die Interesse verraten können - freilich sind sie interpretierbar, manipulierbar und leider sehr anfällig für Mißverständnisse.
Bewunderung und Hoffnung sind die Komponenten, aus denen sich die Verliebtheit entwickelt. Wenn Sie etwas Selbstbeobachtung betreiben, werden Sie Ihre Verliebtheit verläßlich auf diese beiden zündenden Funken zurückführen können und sich vielleicht noch genau an den Moment erinnern, an dem sich das eine oder das andere eingestellt hat. Die Reihenfolge scheint grundsätzlich nicht wichtig. Meine Verliebtheiten fanden ihren Anfang meistens in der Bewunderung und einem nur spärlichen Hoffnungsschimmer, allerdings ist es auch vorgekommen, daß ich das Gefühl hatte, jemand sei an mir interessiert, und, während ich mir diese Möglichkeit durch den Kopf gehen ließ, reizvolle Qualitäten an ihm feststellte, sodaß ich mich unversehens selbst verliebt fand.
Der Mechanismus scheint simpel, bleibt jedoch in wesentlichen Fragen ungeklärt. Es gibt jedenfalls noch eine dritte Komponente, nämlich die Bereitschaft, Fähigkeit oder Anfälligkeit - ganz wie man will - sich zu verlieben. Sie variiert von Mensch zu Mensch und sie variiert mit der Zeit. Nach einer sehr heftigen glücklichen oder unglücklichen Liebe kann es sein, daß Sie sich jahrelang nicht verlieben. Vielleicht liefert ein vages Aufbruchsgefühl oder eine mehr oder weniger bewußte Unzufriedenheit mit Ihrem bisherigen Leben den Auslöser. Dann stehen Sie eines Tages auf, gehen Ihren üblichen Tätigkeiten nach, sehen ein ansprechendes Gesicht, empfangen ein Lächeln, und am nächsten Morgen sind Sie verliebt. Man kann also sagen: Bewunderung und Hoffnung, wobei in beiden Fällen ein kurzer Gedanke reicht, der einem einmal durch den Kopf geht, sind notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für das Entstehen von Verliebtheit.
Der Funke der Bewunderung und der Hoffnung verdichtet sich zu einem Wunsch. Dabei scheint es ziemlich gleichgültig zu sein, wie vorder- oder hintergründig die körperlich-sexuellen Interessen sind. Ob der Wunsch sich als erotische Phantasie oder als romantische Träumerei manifestiert, muß nicht bedeuten, daß die resultierende Verliebtheit sich grundsätzlich unterschiede. Bemerkenswert ist ferner, daß die Objektwahl breiter abgesteckt zu sein scheint als die Präferenzen bei der Auswahl der Sexualpartner. Ich zum Beispiel war, trotz eines rein homosexuellen Sexuallebens, gelegentlich auch in Frauen verliebt und weiß aus Gesprächen mit anderen homosexuellen Männern, daß dies keine Seltenheit ist. Vielleicht machen Heterosexuelle, die bei der Deutung ihrer Gefühle dann noch ein Stück verwirrter sein werden, ähnliche Erfahrungen.
Ist der Prozeß einmal in Gang gesetzt, nimmt er seinen Verlauf in der Art einer chemischen Reaktion. Sie können nichts dafür und nichts dagegen tun. Selbst wenn Sie mit der Deutung erster Anzeichen vertraut sind, werden Sie außerstande sein, daran etwas zu ändern. Sie können nur Ihre eigene Fieberkurve zeichnen und sich gedanklich auf die kommenden Dinge einstellen.
Manche Verliebtheiten verlaufen sehr heftig, andere wachsen still, mit einer fast unmerklichen Ausprägung der Kennzeichen. Letzteres kann vor allem dann passieren, wenn Sie in Ihrem Verhältnis zu der betreffenden Person von vornherein Liebe für ausgeschlossen halten und keinerlei Abwägungen vorab treffen, sodaß Sie von unerwarteten Möglichkeiten und Ihren Gefühlsreaktionen einfach überrascht werden.
Vom ersten Moment an ist Verliebtheit gekennzeichnet durch ein gesteigertes und umfassendes Interesse an der Person des anderen. Man entwickelt Neugierde und findet große Freude an der Beobachtung kleiner Details, die etwas zum Gesamtbild beitragen. Dabei setzt ein interessantes Phänomen ein, das Stendhal Kristallisation nennt. Stendhal hat in Salzburg den Brauch beobachtet, kleine Zweige in einem Schacht der Salzbergwerke zu deponieren und sie nach geraumer Zeit wieder hervorzuholen. Sie sind dann über und über mit Kristallen überzogen und das schlichte Zweiglein erscheint wie ein Schmuckstück aus Edelstein. Analog verwandelt sich der/die Geliebte in den Augen des/der Verliebten. (Anstelle des Bildes mit dem Salz könnte man heute auch sagen, er/sie werde mit Libido überzogen.) Stendhals Definition lautet: "Ich bezeichne als Kristallisation die Tätigkeit des Geistes, in einem jeden Wesenszug eines geliebten Menschen neue Vorzüge zu entdecken."
Wenn Sie verliebt sind, dann hat dies seinen Anfang in einem Moment der Bewunderung genommen, was zweifelsfrei voraussetzt, daß der/die Geliebte etwas hat, das Ihnen gefällt. Wenn Ihre Verliebtheit fortschreitet, werden Sie jedoch fasziniert von der Beobachtung kleiner Eigenheiten, die Ihnen unter normalen Umständen gleichgültig wären oder die sogar als Mangel gelten könnten. Der/die Geliebte hat abstehende Ohren, einen Sprachfehler, Bildungslücken, mehr oder weniger Haare an diesem oder jenem Körperteil, ein kleines Bäuchlein? - Entzückend! Diese kleinen Entdeckungen werden unbegreifliche Begeisterung bei Ihnen hervorrufen und den/die Geliebten noch liebenswerter machen. Die Kristallisation erstreckt sich auf praktisch alles, was im entferntesten mit dem/der Geliebten zu tun hat. Wenn Sie erfahren, daß er/sie aus dem Ort Y stammt, werden Sie an dieser Stelle einen Kristall in Ihre Landkarte pflanzen und zusammenzucken, wenn jemand beiläufig den Ort Y erwähnt.
Das durch Kristallisation entstandene Bild des Objekts ist etwas Unteilbares: nur die Augen des Verliebten können es wahrnehmen. Da wir es gewohnt sind, als soziale Wesen in einer gemeinsamen Wirklichkeit zu leben, in der einer Erfahrung dann die Qualität von Realität zugesprochen wird, wenn sie grundsätzlich mit anderen teilbar ist, erscheinen dem Verliebten sein Dasein oft in bestürzender Weise unwirklich. Als ich Freunden ein Bild von M. zeigte, fanden sie, er sei häßlich. Mir hätte kein Gesicht anziehender erscheinen können. Stendhal schlägt dazu folgende Berechnung vor: wenn man das Glück, das man sich von vollkommener Schönheit erwarten könnte, mit dem Wert 1 ansetzt, dann verspricht der/die Geliebte 1000 solcher Einheiten.
Ein Phänomen möchte ich am Rande anmerken: mit zunehmender Verliebtheit verliere ich die Fähigkeit, ein deutliches visuelles Bild des Geliebten aus dem Gedächtnis zu holen, wie ich es sonst bei allen bekannten Gesichtern kann, deren Gesichtsausdruck in einem typischen Moment ich gewissermaßen abgelichtet habe. Stendhal deutet an einer Stelle eine ähnliche Erfahrung an. Ich kann nur raten: die entsprechenden Gedächtnisspuren stehen nicht mehr unter der Hoheit des kognitiven Systems, sind dessen Verwaltung entzogen.
Stendhals "Kristallisation" wird gelegentlich fälschlich mit Idealisierung gleichgesetzt, was nicht zutrifft, da es keineswegs darum geht, Unvollkommenheiten zu leugnen. In ihr äußert sich vielmehr gleich zu Beginn die bemerkenswerte Fähigkeit der Verliebtheit, sich über Hinderungsgründe durch ihre eigene Vermehrung hinwegzusetzen, weshalb wir einen wirklich vollkommenen Menschen nie in der Intensität lieben könnten wie einen, der die richtige Dosierung von Reizen und Fehlern aufweist. Eine Tendenz zur Idealisierung ist stets vorhanden, allein schon um das Gefühl intensiver Zuneigung zu rationalisieren, aber Kristallisation ist ein Prozeß, durch den sich die Wahrnehmung mit Liebe vernetzt und dabei keinen Teil der geliebten Person ausnehmen will. Am Ende ist man bereit, die erstaunlichsten Eigenschaften als liebenswert zu qualifizieren. Ein klarer Blick mindert die Wirkung der Kristallisation überhaupt nicht. Im Extremfall gelangt man an den Punkt, sogar genau die Wesenszüge zu lieben, die eine glückliche, erwiderte Liebe unmöglich machen - vielleicht der einzige Fall, in dem man sich von einer Liebe zwar nicht ohne Schmerzen, aber ohne Bitterkeit verabschieden kann, weil sogar die Hoffnungslosigkeit noch von Liebe getragen wird.
Der Unterschied zur Idealisierung besteht also darin, daß Schwächen oder problematische Züge des/der Geliebten wohl als solche erkannt werden, sich aber durch Kristallisation in einen besonderen Schmuck verwandeln, ohne dessen Vorhandensein der/die Geliebte einfach nicht das wäre, was man liebt.
Die Kristallisation ist problematisch, weil unter ihrem Eindruck vernünftige Einschätzungen hinsichtlich gemeinsamer Glücksmöglichkeiten oft bedenkenlos über Bord geworfen werden. Mit dem Resultat dieser Leichtfertigkeit hat man in der Folge oft noch schwer zu ringen. Andererseits weckt sie wertvolle Fähigkeiten in uns, die wir vielleicht nur im Zustand der Verliebtheit erbringen können. Sie fördert die Bereitschaft, sich auf einen anderen Menschen einzulassen, sie führt zu einem ganzheitlichen Interesse an ihm, sie überwindet Vorbehalte und Hürden, und sie stellt die Konkurrenz der Schönsten und Besten ab, indem sie die einmal getroffene Wahl als die einzig mögliche und richtige darstellt. Was Sie empfinden, wenn Sie verliebt sind, ist: Ich liebe diesen Menschen, ich liebe ihn so wie er ist, ich liebe alles an ihm, ich werde ihn immer lieben. Das sind Versprechen, die Sie wahrscheinlich nicht halten können, aber sie sind in dem Moment ehrlich gemeint. Wenn es überhaupt irgendein Musterbeispiel für eine ehrliche, von Hintergedanken freie und naive Einstellung gibt, dann findet es sich in diesen vorbehaltlos begrüßenden Gefühlen der frühen Verliebtheit.
Sicherlich gibt es Grenzen der Kristallisation. Wenn Sie im Zuge Ihrer Forschungen auf Eigenarten stoßen, die absolut unvereinbar sind mit Ihren Erwartungen, die sehr schwerwiegend und verstörend sind, kann die Verliebtheit daran zugrunde gehen. Ähnlich mit dem zweiten Zweig der Kristallisation, der Hoffnung. Wenn Sie in kurzer Zeit absolut unüberwindbare Hürden erkennen, kann die Kristallisation zum Erliegen kommen. Sie erleben die Sache dann als verübergehenden Anflug von Verliebtheit, der in ein paar Wochen vergessen sein wird. Entscheidend ist die Dynamik der Vorgänge, denn die Verliebtheit wächst, und ein Umstand, dessen Kenntnis heute vielleicht ausreichen würde, um die junge Liebe abzutöten, kann morgen einer sein, der sie noch mehr steigert. Im Grenzbereich können schwer kristallisierbare Mängel oder Hürden Ihrer Verliebtheit von vornherein den Stempel einer quälenden Leidenschaft aufdrücken.
Wem solche Erfahrungen erspart bleiben, der erlebt in der Phase der ersten Kristallisation die zweifellos schönsten Momente seines Daseins. Die junge Liebe ist völlig unbeschwert. Der Umstand, daß sie entweder gar nicht oder jedenfalls nicht als eine ernsthafte Angelegenheit erkannt wird, macht sie so sorglos. Alles scheint offen und möglich. Der Verliebte entwickelt Wunschträume, je nach Motivation denkt er an Sex, Beziehung oder bescheiden einfach an Nähe. Er ist sich keineswegs darüber im Klaren, daß die Nichterfüllung dieser vagen Wünsche mit Unglück verbunden sein könnte. Vorerst bereitet es ihm nur Freude, einem ganz bestimmten Menschen zu begegnen, ihn wahrzunehmen und von ihm wahrgenommen zu werden. Die Kristallisation scheint sich auf die ganze Welt auszudehnen: alle Eindrucke sind intensiviert, jede Arbeit geht leicht von der Hand, an jedem Ort und zu jeder Zeit kann man an eine Sache denken, die einem Freude bereitet. Später wird man sagen: nie war die Welt schöner.
Die unmittelbaren sexuellen Energien sind an ihrem Höhepunkt, im weiteren Verlauf werden sie von heftigeren Emotionen eher an den Rand gedrängt. Wenn Sie das Glück haben, in dieser frühen Phase der ersten Kristallisation unkompliziert mit dem/der Geliebten zusammenzufinden, wird Ihre Lust alle Maßstäbe sprengen, die Ihnen von belanglosen sexuellen Begegnungen bekannt sind.
Verliebtheit knüpft ein ganz besonderes und exklusives Band zwischen Ihnen und einem ganz bestimmten Menschen. Ohne diesen Menschen würde Ihnen die Welt leer erscheinen, Sie würden Ihr Leben riskieren, um ihn aus einer Gefahr zu retten, Sie leiden, wenn er leidet, Sie würden Ihr letztes Hemd mit ihm teilen. Dabei haben Sie ihn, um einen Extremfall anzunehmen, vor einer Woche noch gar nicht gekannt und nicht mehr als ein paar Dutzend Worte mit ihm gewechselt. Ein vergleichbares Band findet sich auch in einer partnerschaftlichen Liebe, aber dort hat es Jahre gebraucht, um es zu knüpfen.
Mit der Hoffnung, die den Anfang Ihrer Verliebtheit bildete, haben Sie einen Anspruch auf das Objekt Ihres Interesses hervorgebracht, den ein naiver Teil Ihrer Seele, für den ein Wunsch gleichbedeutend mit der Forderung nach seiner Erfüllung ist, bitter ernst nimmt. Ohne Eins zu werden mit diesem Objekt, so ahnen Sie, werden Sie kein ganzer Mensch mehr sein.
Nun haben Sie als Verliebter vor allem das Problem, die aus Ihrer Sicht bereits bestehende Beziehung auf eine reale Basis der Gegenseitigkeit zu stellen. Sie müssen also werben: einerseits Ihr Interesse bekunden und sich andererseits selbst möglichst interessant präsentieren. Ich war in dieser Disziplin offen gestanden nie sehr gut und selten erfolgreich.
Wenn Sie Glück haben, stellt sich rasch ein Einvernehmen ein. Häufiger Augenkontakt, ein Lächeln, vielleicht ein verschwörerischer Blick - prima! Sie müssen zwar davon ausgehen, daß auf der Gegenseite keine Verliebtheit sondern nur flüchtiges Interesse vorhanden ist, und haben daher immer noch das Risiko, bei genauerer Prüfung durchzufallen. Aber zumindest haben Sie den Fuß in der Tür!
Wenn Sie kein Glück haben, dann empfangen Sie widersprüchliche Signale. Die werden Sie beschäftigen, und zwar um so mehr, je weiter die Verliebtheit fortschreitet. Die Interpretationsmöglichkeiten eines Blickes oder eines Satzes, also eines Ereignisses, das keine Sekunde gedauert hat, kann Sie tagelang beschäftigen und Ihnen den Schlaf rauben. Sie werden Phasen der Entmutigung erleben und sich sagen, daß Sie keine Chance haben und die Sache gelaufen ist. Trotzdem wird ein unbezwingbarer Drang Sie wieder in die Nähe des/der Geliebten treiben, und Ihnen neue Eindrücke verschaffen, die wieder Hoffnung wecken.
Verliebtheit scheinen allgemein der Tendenz zu folgen, mit Widerständen zu wachsen, weshalb die zweite Kristallisation erst durch die Enttäuschung allzu einfacher Hoffnungen aufblüht. Wenn der/die Geliebte Ihnen Wünschen zuvorkommt und vielleicht gleich überhöhte Ansprüche stellt, dann kann Ihr Enthusiasmus sehr rasch durch nüchterne Überlegungen gebrochen werden. Erst ein paar Höhen und Tiefen zwischen Hoffnung und Ernüchterung bringen Sie an den Punkt, an dem es für Sie nichts Wichtigeres auf der Welt mehr gibt, als die Zuneigung dieses einen Menschen zu gewinnen.
Während die erste Kristallisation sich um die Person des/der Geliebten bildet, geht es bei der zweiten um die Beziehung. Wenn Sie verliebt sind und an X denken werden Sie sich fragen: denkt X jetzt auch an mich? Sie phantasieren Begegnungen praktisch an jeder Straßenecke und malen sich Situationen aus, in denen Ihre Zuneigung erwidert wird. Verliebtheit zielt auf eine auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehung ab: er/sie solle das empfinden was Sie empfinden. Das Kristall bildet sich um den Gedanken: er/sie könnte mich lieben. Die Verliebtheit erschließt Ihnen eine nahezu unerschöpfliche Quelle der Hoffnung, wenn die Kristallisation um diesen Gedanken in Ihrem Kopf einmal begonnen hat.
Solange die Verhältnisse nicht geklärt sind, wollen Sie sich vielleicht einen coolen Anstrich geben, um Bewunderung zu erwecken, riskieren damit aber, daß der/die andere Ihr Interesse gar nicht wahrnimmt oder es für flüchtig hält. In der direkten Interaktion verlieren Sie Ihre Unbefangenheit, denn alles, was Sie tun, und jedes Signal, das Sie empfangen, kann in dieser Frage entscheidend sein. Sie trauen Ihren Wahrnehmungen nicht mehr und bringen es nicht mehr fertig, einen natürlichen Ausdruck Ihrer Zuneigung an den Tag zu legen. Wenn Sie ein Mensch sind, der sich ungern in die Hände eines anderen begibt, wird Ihr emotionaler Zustand ein schweres Handicap für Sie, denn tatsächlich sind Sie bereits völlig in den Händen eines anderen und können bloß noch versuchen, ihm diesen Umstand zu verheimlichen.
Je nachdem, unter welchen Lebensumständen die Begegnungen mit dem/der Geliebten stattfinden, wird Ihr Leben völlig von diesen Begegnungen diktiert. Um ein Beispiel zu nennen: ich verliebte mich in R., der regelmäßig an wöchentlichen Treffen in einem Lokal teilnahm und meine Annäherungsversuche launenhaft zu ermuntern und zu frustrieren pflegte. Die Treffen wurden zum Mittelpunkt meines Leben. Es gab nur noch Tage davor und Tage danach und den Tag selbst. Ich empfand eine grauenhafte Angst und eine fast noch erschreckendere Sehnsucht. Es überwog immer die Sehnsucht, ich hätte unmöglich fernbleiben können.
Die Angst, die eine Verliebtheit im Zustand ungeklärter Verhältnisse begleitet, kommt daher, daß Sie unter dem Druck der Wünsche ständig versucht sind, vieldeutige Signale und Reaktionen so zu deuten, wie es Ihnen am günstigsten erscheint, wobei Sie dem Objekt ein Innenleben zuschreiben, das Ihren Hoffnungen entspricht. In Träumereien und gedanklichen Probehandlungen haben Sie eine Vertrautheit mit ihm entwickeln, die vielleicht schmerzhaft vom tatsächlichen Stand der Dinge abweicht. Mit dem Herannahen einer realen Begegnung rückt diese Diskrepanz ins Bewußtsein und weckt eine Angst, die archaische Tiefe annehmen kann. Die Situation ähnelt den frühesten Objektbeziehungen, in denen die Differenz zwischen dem inneren Bild eines guten Objekts, dem die Erfüllung jeder Wunschregung zugeschrieben wurde, und dem realen Objekt, das erschreckenderweise unabhängig agierte, Existenzängste auslöste.
Da es nicht einfach ist, in die Seele eines anderen Menschen zu blicken, sind fundamentale Irrtümer und Mißverstände in der Liebe tatsächlich keine Seltenheit. Die Beteiligten gehen von falschen Annahmen über die Gefühle und Motive des jeweils anderen aus, halten für Zuneigung, was in Wahrheit kalte Berechnung ist, oder deuten als Ablehnung, was Ausdruck einer ganz verzweifelten Liebe ist. Solche Trugschlüsse bringen die tragisch-komischsten Momente im Leben hervor; Stendhal gibt in seinen Romanen einige köstliche Schilderungen davon.
Die schwule Szene ist ein eigenartiges Milieu für die Liebe. Einerseits ein günstiges, da alle Einrichtungen zu dem Zweck gegründet wurden, einander zu finden. Es ist ein Gebrodel von Liebeshungrigen, die sich nach den verschiedenen Linien von Interesse und Desinteresse, Anziehung und Abstoßung ausrichten, finden, wieder auseinandergehen. Andererseits geht es oft sehr eingeschränkt um sexuelle Befriedigung. Es stellt sich die grundsätzliche Frage, was Verliebtheit und Sex miteinander zu tun haben.
Wenn man das klassische Bild hat, daß die Verliebtheit auf eine sexuelle Begegnung hinsteuert und sich darin erfüllt, dann wäre ein Milieu, in dem man spontan und ohne Umschweife Sex haben kann, ungeeignet für Verliebtheit, da das Ziel dermaßen einfach zu erreichen ist, daß sich keine Kristallisation einstellt. Meiner persönlichen Erfahrung nach sind Sex und Verliebtheit zweierlei Dinge und bedingen keine Reihenfolge.
Mit M., dem ersten Mann in meinem Leben, ging ich ins Bett, nachdem ich ihn kaum eine Stunde kannte. Ich war mit dem Rad in die Stadt Y gefahren, um eine Woche dort zu verbringen und das schwule Leben kennenzulernen. In einer Bar spendierte mir jemand ein Bier und ich setzte mich zu ihm an den Tisch. Und dann, in einer Sommernacht, ging ich mit einem fremden Mann in dessen Wohnung, um mit ihm Sex zu haben. M. war deutlich älter als ich, hatte ein keineswegs schönes, aber fesselndes Gesicht, funkelnde Augen, eine wilde Haarmähne. Er war Neuseeländer, wir unterhielten uns auf Englisch. Ich glaube, das hat den Ausschlag gegeben, warum ich mit ihm mitgegangen bin und nicht mit einem der anderen, die sich interessiert hatten. Er war für mich der Fremde.
Am nächsten Tag brannten mir die Lippen von seinen unrasierten Wangen und ich hatte Nachbilder von Gerüchen, Haut, Stimmen, Wärme und seinem Gesicht. Bei jeder Verliebtheit erfordert es eine gewisse Zeit, seien es auch nur ein paar Stunden, um Eindrücke zu verarbeiten. Als ich M.s Wohnung am Morgen eines grauen, schwülen Tages verließ, hatte ich eine Zeile von Bachman Turner Overdrive im Kopf: "Any Love is good love, so I took what I could get." Ich war erleichtert, diesen ersten Sex mit einem Mann endlich hinter mich gebracht zu haben. Es war okay gewesen. M. hatte mich gefragt, ob wir uns wiedersehen würden und ein Lokal genannt, wo wir uns treffen könnten. Ich hatte keineswegs vor, hinzugehen. Als ich am Abend dann hinging, war ich dem Gedanken nähergetreten, nicht irgendeine, sondern eine wirklich gute Liebe gefunden zu haben.
Bei manchen spannenden Momenten in meinem Leben hatte ich die Geistesgegenwart, meine Eindrücke schriftlich festzuhalten. Als ich nun, zwei Jahrzehnte später, in einem Stapel alter Papiere kramte, fand ich tatsächlich eine Notiz: "Another night with M. I had to smile about the very strange feeling to have no home in this city except his bed, after I checked out from the hostel."
Ich hatte sie in Englisch geschrieben. Englisch war für mich die Sprache der Liebe geworden. Kristallisation ist die exakte Bezeichnung für den Vorgang.
Wenn Sex und Nähe von Anfang an da sind, nimmt die Verliebtheit einen etwas anderen Verlauf als bei einer mühevollen Eroberung. Sie entsteht aus dem Wunsch nach mehr Sex und Nähe und die Kristallisation bildet sich um die Frage, welche Gefühle einem der andere entgegenbringt.
Ich liebte M. Ich steckte meine Nase gerne in seine Achselhöhlen und roch sein Parfüm und seinen Schweiß. Vor allem liebte ich sein Gesicht, das ich ansah wenn wir Sex hatten. Ich könnte nicht genau sagen, was mich mehr erregte: was wir da miteinander machten, oder einfach nur sein Gesicht, so ganz nah, im Licht der Straßenlampen durch das Fenster.
M. lebte in einer Welt von Show, Kokain und sexueller Freizügigkeit, ich war auf der Suche nach dem Traumprinzen in einem idealisierten Weltbild versponnen, das in jeder Hinsicht wenig hilfreich war. Ich muß sagen, daß M. in seiner Rolle als fürsorglicher Liebhaber wirklich über sich hinauswuchs. Er war großartig. Ich bin ihm unendlich dankbar. Ich lebte drei Monate in seiner verwahrlosten Wohnung, es waren die intensivsten meines Lebens. Leider kann (aufgrund der grundsätzlichen Unteilbarkeit der Verliebtheit) keiner auch nur im entferntesten ahnen, was diese Zeit mir bedeutet und was die Erinnerung, zwanzig Jahre später, bei mir wieder auslöst. M.s wilder Lebenshunger und meine Vorstellungen vom stillen Glück zu zweit paßten auf Dauer nicht zusammen. Ich verließ ihn weil ich ihn leidenschaftlich liebte, er mich aber "nur" als Glücksfund in seinem Bett schätzte, mit dem er sich gerne umgab, den er gerne herzeigte, mit dem er aber nicht das Leben teilen wollte. Vielleicht hätten wir eine längere Zeit zusammen gehabt wenn ich etwas weniger naiv gewesen wäre und M. nicht gerade ein Problem mit seiner Kokainversorgung gehabt hätte, das ihn übellaunig machte. Ich litt entsetzlich unter der Trennung, bin dem Entschluß aber treu geblieben. Jahre später traf ich M. zufällig auf der Straße und wir gingen unverzüglich wieder miteinander ins Bett. Sexuell konnten wir nicht an unsere Glanzzeiten anknüpfen, ich glaube auch, daß M. eine unausgesprochene Sorge um sich und um mich belastete, aber uns fiel nichts Besseres ein, um unsere gegenseitige Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen.
Abgesehen davon, daß mir die Erinnerung viel wert ist, wollte ich nur demonstrieren, daß es offenbar nicht so wichtig ist, ob Sex vor oder nach der Verliebtheit kommt. Bei manchen Verliebtheiten spielt Sex überhaupt nur eine sehr kleine Rolle, in anderen eine größere. Wer schon an den nächsten Schwanz denkt, ehe er den einen aus dem Mund genommen hat, der wird sich freilich kaum verlieben, weil ihm, möglicherweise neben anderen Voraussetzungen, einfach die Zeit fehlt, um sein Objekt mit Kristallen zu überziehen. Was das andere Extrem, die ewige Liebe betrifft, so scheint sie mir ein unrealistisches Konzept. Ein Anflug von Verliebtheit ist nach ein paar Wochen vorbei, eine voll erblühte Verliebtheit dauert viele Monate, vielleicht sogar Jahre. Aber irgendwann wird die Verliebtheit abnehmen und verschwinden, und Sie werden sich wieder verlieben. Als einzige Ausnahme kann ich mir vorstellen, daß jemand sich Reizen so kategorisch verschließt und seine Gedanken dermaßen kontrolliert, daß in ihm während seines ganzen Lebens an der Seite einer Person nie auch nur der Hauch eines Wunsches aufkommt. Das wäre eine bemerkenswerte Leistung, ich würde diesen Menschen aber auch ein wenig bedauern.
Angesichts der Unmenge an schnellem Sex und der Flachheit der häufigen Drei-Tages-Verliebtheiten bin ich mir mit meiner Art zu Lieben in der schwulen Subkultur oft als Unikum vorgekommen. Ich vermisse H., mit dem ich über Stendhal reden konnte und der sich vor 15 Jahren das Leben genommen hat.
Stendhal vertritt in der Frage der leidenschaftlichen Liebe eine elitäre Position: es geht um das höchste Glück überhaupt, und es sind nur die starken, aus den Niederungen alltäglicher Begierden erhobenen Seelen, die dafür empfänglich sind. Diese Haltung entspringt dem Staunen, mit dem Verliebte registrieren, womit sich die Welt ringsum beschäftigt. Chronisch unglücklich Verliebten bietet sie Trost, da die Liebe selbst zum Wert erklärt wird, unabhängig von Erfolg oder Mißerfolg. Der in einer Leidenschaft gefangene unglücklich Liebende würde vielleicht gerne mit einem glücklich Liebenden tauschen, aber keinesfalls mit einem Nichtverliebten, weil dessen Gefühlswelt ihm arm erscheint. Die Vita eines solchen Menschen setzt sich aus den Namen derer zusammen, die er in bestimmten Jahren seines Lebens verehrt, umworben, geliebt, nie erreicht oder wieder verloren hat. Die Vita eines anderen besteht aus einer Chronologie von Firmennamen, Karrieresprüngen und Titeln.
Daß leidenschaftlich Liebende die meiste Zeit unglücklich verliebt sind, liegt in der Natur der Sache: die leidenschaftliche Liebe ist eine Verliebtheit, die auf Hindernisse stößt und sich dadurch steigert anstatt zu verlöschen. Je schwieriger die Sache scheint, desto größer wird die Leidenschaft. Nachdem es unwahrscheinlich ist, daß die Hindernisse plötzlich zu bestehen aufhören, wird die leidenschaftliche in den allermeisten Fällen eine unerfüllte Liebe bleiben. Man sollte aber nicht glauben, daß leidenschaftlich Liebende ununterbrochen unglücklich wären. Ihr Sensorium ist dermaßen überdreht, daß sie z.B. durch die bloße Anwesenheit des/der Geliebten im gleichen Raum in einen himmlischen Zustand versetzt werden und diese bescheidene Nähe als den schönsten Moment in ihrem Dasein empfinden können.
Die leidenschaftliche Liebe ist also im Prinzip nichts weiter als eine Verliebtheit, die bei ihrer Entfaltung auf Hindernisse stößt und eine Dimension annimmt, die mit dem Begriff der Verliebtheit verniedlicht würde. Eine exakte Grenze gibt es nicht, meine Verwendung der Begriffe ist daher auch etwas unscharf. Leidenschaft zeichnet sich durch Intensität und Dauer aus, und meistens auch dadurch, daß man sich klar ist, daß die Liebe unerfüllt bleiben wird, man aber trotzdem nicht von ihr lassen kann.
Hindernisse können in dem Umstand bestehen, daß der/die Geliebte einen nicht haben will, in persönlichen oder sozialen Sachzwängen, oder in der charakterlichen Uneignung der Beteiligten. Bei letzterem muß ich an R. denken. Er war ein aufgeweckter, impulsiver, selbstverliebter und zugleich unsicherer Junge, der mir vom ersten Moment an gefallen hatte. Bei einem Spaziergang bemerkte ich, daß ich offenbar Eindruck auf ihn machte, da er Eigenheiten von mir nachahmte. Dadurch ermuntert zeigte ich behutsam mein Interesse. Somit hätten wir beide Bewunderung und Hoffnung gehabt, wir hätten uns lieben können, und ich glaube, an diesem einen, wunderschönen Tag hatten wir das auch vor. Daß diese Liebe unerfüllbar war und es stattdessen ein Kampf werden würde, ahnte ich bald, in den Nächten, in denen ich nach drei, vier Stunden Schlaf aufwachte und ruhelos nach Erklärungen suchte und sie langsam auch fand. R. hatte die unglückliche Tendenz, sich schutzlos zu ergeben und im nächsten Moment zu verletzen, um einer Verletzung zuvorzukommen, die Dinge zu idealisieren und im nächsten Moment als Vorwegnahme einer befürchteten Enttäuschung auf verheerende Art zu entwerten. Er war gefangen in diesen Zyklen und ich, verliebt in ihn, wurde ein Mitgefangener, der mit der Kühnheit, die nur Verliebte aufbringen, es sich selbst zur Aufgabe machte, einen Weg daraus zu finden.
Den äußeren Rahmen für unsere Begegnung bildete ein Lokal für Schwule und Lesben. Wir beide umgaben uns mit einer Hausmacht von Verehrern, die aber nur Statisten in unserem Spiel waren. R. behandelte die seinen oft grausam, ich hatte mit meinen wenigstens Mitleid, war im Grunde aber auch nicht viel besser. Vor dieser Kulisse vollführten wir eine Art tänzelnden Kampf um Nähe und Distanz mit den Mitteln von Blicken, Gesten und Worten, den wir im Lauf der Zeit zu einer gewissen formalen Eleganz entwickelten. R.s Ziel war es, mich unter Kontrolle zu bringen und in seine Hausmacht einzugliedern, oder mich anderenfalls zu vernichten, mein Ziel war es, seine Liebe zu gewinnen ohne mich zu unterwerfen oder Unterwerfung zu verlangen. Ich mußte seiner Verachtung und seinem eiskalten Haß standhalten, mußte seine Bewunderung auf mich ziehen ohne seine verletzlichen Momente zu mißbrauchen und immer aufs Neue ein nicht forderndes Zeichen der Zuneigung setzen, um ihm ein Gefühl der Sicherheit in der Art zu geben, daß meine Liebe alles aushalten konnte und er sich mir gegenüber weder übermächtig noch ausgeliefert fühlen müßte. Immer ist mir das nicht gelungen, und aus dem Bestreben, einander zu verführen, entstand eine Konkurrenz, wer von uns beiden das glänzendere Objekt sei, die bei mir zunehmend an die Stelle eines diffusen Verschmelzungswunsches trat, unsere Konturen schärfte und dabei durchaus lustvoll war (Schellenbaum würde das vielleicht als Spiegel-Kommunikation im männlichen Zweikampf beschreiben). Es ist schon eigenartig, daß ich gerade in dieser sehr schwierigen Liebe ein mir bisher unbekanntes Selbstbewußtsein und ein Gefühl der Stärke entwickelte. Unsere jeweiligen Defizite paßten komplementär perfekt zusammen, und es war wohl so, daß es für uns beide mehr darum ging, zu uns selbst als zueinander zu finden.
Bei all dem liebte ich R. leidenschaftlich, seinen stolzen, klaren, geraden Blick aus grauen Augen, die manchmal auch verzweifelt nach Einverständnis suchten, seinen schönen Mund, trotzig, fordernd, oft atemlos vor Angst und Wut, seine Verletzlichkeit und auch seine Grausamkeit. Er war ein wunderschöner Mensch, in seiner Fragmentiertheit, und nebenbei klug, engagiert und tapfer. Natürlich fühlte ich mich oft einsam und wurde todtraurig wenn ich händchenhaltende Verliebte sah, da mir dieses Glück versagt blieb. Abgesehen von Begrüßungsküssen haben wir uns nie berührt, das einzig Nackte, das ich von seinem Körper gesehen habe, waren Gesicht und Arme, und die einzige Nähe, die ich herstellen konnte, fand ich in meinem Bemühen, sein fremdartiges Innenleben und die darin wütenden Kräfte zu verstehen. Mit der Zeit war ich schon ziemlich gut darin, hatte die Literatur studiert und konnte manchmal seine Züge schon vorhersagen, was aber nichts daran änderte, daß mir bei jeder Begegnung das Herz bis zum Hals schlug. Damals fand ich die Sache zermürbend, mehr als einmal gab ich sie auf, tröstete mich mit anderen, nur um herauszufinden, daß kein anderer mich interessierte - bis jemand mich eines Tages, als ich schon sehr erschöpft war, fest bei der Hand packte und fortzog. Rückblickend betrachtet war es die schönste meiner Leidenschaften, da ich wirklich mein ganzes Herz und meinen ganzen Verstand aus Liebe einer völlig aussichtslosen Sache widmete, ohne später festzustellen, es sei Verschwendung gewesen. Er verdiente es mit jeder Faser seines Seins. Wir hatten eine Beziehung, auch wenn der einzig sichtbare Erfolg am Ende darin bestand, daß wir einander mit einer gewißen Verläßlichkeit ohne ich-seh-dich-nicht-Spielchen begrüßen konnten. Ich weiß leider nicht, welchen Nutzen R. daraus ziehen konnte, aber wenn ich später im Leben schwierige Liebesverhältnisse bestehen konnte, dann verdanke ich es der harten Schule, durch die R. mich einen Frühling, einen Sommer, einen Herbst, einen Winter und noch einen Frühling lang geschickt hat. (Communards: "Never Can Say Goodbye")
Der ideale Nährboden für Leidenschaft ist die verbotene Liebe. Daher vermute ich die größten Leidenschaften hinter Klostermauern. Wenn man, so wie neulich (St. Pölten 2004), erfahren muß, daß auch dort nur alberne Sexspiele betrieben werden, enttäuscht mich das tief.
Meine erste große Leidenschaft fand ich 1981 hinter Kasernenmauern. Ich war 19 Jahre alt und verliebte mich in L., einen sehr hübschen, verschlossenen Jungen in meiner Kompanie - wie ich ein Außenseiter, bloß noch weniger angepaßt, in seine künstlerischen Interessen versponnen, rätselhaft und unzugänglich. Irgendwann war ich überzeugt, er liebe mich auch. Während der ganzen 8 Monate habe ich es nicht über mich gebracht, mehr als vage Andeutungen zu machen, und über das Glück oder Unglück eines Tages entschied, ob unsere Blicke sich begegneten wenn "Austreten!" gerufen wurde und wir uns im Mittelgang des Schlafsaals aufstellen mußten. Ich kam auf die Idee, einen SF-Roman zu schreiben, der in einer Zukunft spielte, in der die Liebe von finsteren Mächten verboten war. In diesem Romanentwurf machte ich aus L. ein Mädchen (womit ich ihm unrecht tat) und zeichnete meine alltäglichen Erfahrungen in einem erfundenen Rahmen auf. Da ich trotz dieser Entstellung Angst hatte, jemand könnte meine Notizen lesen, verwandelte ich meine Handschrift in eine Art Steno, garantiert unlesbar für andere - nach einiger Zeit auch für mich selbst; seither muß ich in Blockbuchstaben schreiben. Das angefangene Manuskript liegt zwar noch irgendwo herum, aber da es in einer Geheimschrift verfaßt ist, kann ich ihm nichts entnehmen. Ich erwähne das alles, weil es sehr gut zeigt, wie konflikthaft mein Verhältnis zur Homosexualität war. Außer unangenehmer Erfahrungen mit Männern am Bahnhofsklo hatte ich keine Vorstellung davon und hätte eigentlich auch gar nicht gewußt, was ich mit L. günstigstenfalls anstellen hätte können - ich hatte nicht einmal erotische Phantasien was ihn betraf. Großteils war ich in der Zeit gar nicht unglücklich, da ich ihn immer in meiner Nähe wußte. Der Tag nach der Entlassung war aber der schwärzeste in meinem Leben, denn ich begriff mit einem Schlag, daß die Sache vorbei war, ich eine Chance nicht genutzt und für immer verloren hatte. In meiner Verzweiflung schrieb ich L. später noch zwei Briefe, einen anonymen und etwa ein Jahr darauf einen mit meinem Namen, oder jedenfalls einem herstellbaren Bezug. Die Briefe waren mir dermaßen peinlich, daß ich alle Details gewaltsam verdrängt habe. Mich würde interessieren, wie er die Sache erlebt hat, bringe es aber nicht über mich, ihm noch einen dritten zu schreiben.
Mit 20 entdeckte ich Stendhal, der mir vermittelte, daß zur Leidenschaft auch Verstand gehört, und ich hörte im Radio ein Interview mit zwei jungen Homosexuellen, die offen und selbstbewußt über ihre Art der Liebe sprachen. In Bezug auf L. kam beides ein Jahr zu spät.
So wie die Freude ist auch der Kummer des Verliebten einem Außenstehenden nicht vermittelbar. Vorausgesetzt, man hat einen guten Freund, der geduldig zuhört, mag es vielleicht etwas nützen, sich den Kummer von der Seele zu reden. Der andere versteht zwar rein gar nichts, aber Sie können wenigstens reden. Ich habe das nie versucht, da ich keinen meiner Freunde so sehr langweilen wollte.
Wenn Sie verliebt sind und der, den Sie lieben, Ihnen in völlig unmißverständlicher Weise Gleichgültigkeit zu erkennen gibt, oder vielleicht schlimmer noch, wenn Sie erkennen, daß er mit Ihnen spielt oder einen vergleichsweise billigen Vorteil zu erringen versucht, dann verursacht das einen tiefen Schmerz. Vielleicht wird der Schmerz Ihnen die Kraft geben, einen klaren Schlußstrich zu ziehen und mit Haltung abzutreten.
Sie können den Schmerz in Wut oder Trotz umwandeln, ihn bekämpfen oder still erdulden. Langsam wird er dumpfer werden. Was dann kommt ist noch viel schlimmer. Es ist das Nichtvorhandensein jeglicher Freude. Es wird Ihnen nämlich langsam dämmern, daß es nichts mehr gibt, daß Sie sich erhoffen oder auch nur erwünschen könnten.
Die libidinösen Energie, die Sie im Zustand der Verliebtheit so verschwenderisch über die ganze Welt verteilt haben, reißt bei ihrem Zusammenbruch auch alle Freuden mit, die es bisher für Sie gegeben hat. Ihr Beruf, Ihr liebstes Hobby, Ihre besten Freunde - alles wird Ihnen öde, fast abstoßend erscheinen. Zu Stendhals Zeiten konnte ein Mann in dieser Situation die schon vorhandene Todesverachtung ausnutzen, um sich in eine Schlacht oder ein Duell zu stürzen. Das Aufsuchen von Extremsituationen scheint tatsächlich der einzige Weg zu sein, um der allumfassenden Trostlosigkeit etwas entgegenzusetzen, wenngleich man nicht so weit gehen muß, das Leben auf Spiel zu setzen. Möglichst widrige physische Umstände stellen ein gewisses Gleichgewicht zur inneren Verfassung her, körperliche Strapazen lassen einen die eigene Kraft wieder spüren, und man braucht unbedingt ein Ziel, irgendeines, sei es noch so absurd und willkürlich. Am besten wäre ein langer, qualvoller Marsch durch eine Eiswüste.
Ein Bruch mitten in einer schweren Verliebtheit kann dazu führen, daß Sie sich erneut verlieben, ehe der Schmerz über den Verlust abgeklungen ist. Sie werden merken, daß etwas nicht ganz stimmt. Die Verliebtheit ist nicht ganz authentisch. Die Kristalle, die sich um das neue Objekt bilden, beziehen ihren Glanz von der alten Liebe. Vom Standpunkt der Vollkommenheit fehlt der Reiz einer sich aus dem Nichts selbst erschaffenden Liebe. Damit sei aber nicht gesagt, daß Ihr neues Projekt sich nicht gut entwickeln könnte.
Das Ende einer Liebe bedeutet Trauer. Dabei besteht die Gefahr, daß die Trauer sich in Sehnsucht verwandelt oder sich damit vermischt, zärtliche Erinnerungen oder Liebesphantasien wiedererweckt werden, so als bestünde noch Hoffnung. Man kann auf diese Weise eine vergangene Liebe sehr lange kultivieren, ob Sie sich damit etwas Gutes tun, müssen Sie selber herausfinden. Doch auch ohne einer solchen Verlängerung im Schwebezustand zwischen Sehnsucht und Abschied kann die Loslösung von einer Liebe sehr lange dauern. Von L., den ich mit 19 leidenschaftlich liebte, träumte ich bis Mitte 30. In den Träumen waren wir wieder beim Bundesheer und es wiederholte sich ununterbrochen die Situation des Andeutens und Verharrens. Nach dem Aufwachen konnte es sein, daß ich weinte. In meinem letzten Traum waren wir beide gealtert, er hatte sich ein Bäuchlein zugelegt, sich sonst aber ganz gut gehalten. Ich war nackt, ohne mich deshalb zu schämten. Wir redeten miteinander wie gute Freunde. Seither habe ich nie mehr von ihm geträumt.
Manche Leute verleugnen ihre Liebe, wenn sie nicht zu einem Erfolg geführt hat, entwerten das Objekt (und damit sich selbst, da sie es geliebt haben), zertrümmern die Kristallisation gewissermaßen mit dem Vorschlaghammer. Damit kann man sich zweifellos rascher vom Objekt verabschieden, aber ich werde die Befürchtung nicht los, daß man damit einen Teil der eigenen Seele tötet. Distanzierung, Gefühle von Haß, Anklage oder Verachtung sind bei Brüchen oder am Ende einer Liebe wohl unvermeidbar, aber es lohnt sich, gerecht gegenüber dem Objekt zu bleiben und seine liebenswerten Züge nicht ganz zu vergessen. Wenn Sie, vielleicht Jahre später, an diese Zeit zurückdenken, erscheint sie als vitaler Teil Ihrer Biographie, während andere die Erfahrung als Mißerfolg aus ihrem Leben löschen und dessen Dauer um den entsprechenden Betrag verkürzen.
Ein besonderes Problem bei einer unerfüllt gebliebenen oder gescheiterten Verliebtheit ist, daß Sie nicht nur die Liebe sondern in gewisser Hinsicht auch Ihr Selbst verlieren. Wir sind es als Menschen ganz einfach gewohnt, uns selbst so zu sehen, wie wir in den Augen anderer erscheinen bzw. zu erscheinen glauben. Dieser eine geliebte Mensch war für Sie das wichtigste Gegenüber auf der Welt, und das, als was Sie ihm zu erscheinen hofften, war der kostbarste Teil Ihres Selbstbilds und Ihres Selbstwerts. Mit dem Verlust der Spiegelung in den Augen des/der Geliebten geht dieser kostbare Teil verloren und Sie erleben ein Gefühl nicht nur der äußeren sondern auch der inneren Leere und Zerrissenheit. Der Verlust ist kurzfristig kaum zu ersetzen, aber die Kenntnis des Effekts hilft, sinnlose Reaktionen zu vermeiden, indem Sie etwa dem Spiegel hinterherlaufen und Ihr Bild darin auf die eine oder andere Weise zu bekräftigen oder zu korrigieren versuchen, obwohl die Liebe selbst schon eine erledigte Sache ist.
Die Verliebtheit entfesselt und bindet ungeheure seelische Energien, die Sie auf ein bestimmtes Ziel hintreiben. Da die Welt nun einmal nicht so beschaffen ist, daß wir alle unsere Ziele erreichen, ist ein Scheitern möglich, sogar wahrscheinlich. Nach meiner persönlichen Bilanz würde ich sagen, daß auf eine erfüllte Verliebtheit mindestens fünfzehn unerfüllte kommen. Ich schätze, das ist eine Quote, bei der man von Glück sprechen kann - jedenfalls dann, wenn man wie ich die Tendenz hat, sich immer in die exotischsten Exemplare unserer Gattung zu verlieben. Aber egal: wenn die an das Objekt gebundenen Energien ihnen nichts als Schmerz bereiten, müssen Sie versuchen, sie behutsam loszulösen, indem Sie sie abstrahieren, sublimieren, auf ein anderes Feld verlegen. Wenn Sie irgendein kreatives Talent haben, kommt Ihnen das zustatten: Schreiben Sie Gedichte, malen Sie Bilder, machen Sie Musik. Wenn nicht, dann weiten Sie Ihre Interessen aus. Studieren Sie Geschichte, besuchen Sie Konzerte, etc. Beginnen Sie etwas Neues in Ihrem Leben! Da es ohnedies, zumindest was die Wertigkeiten betrifft, als Trümmerhaufen daliegt, ist die Verliebtheit eine gute Gelegenheit für einen Neuanfang. Machen Sie etwas, das Sie zuvor nicht gemacht haben. Seien Sie sich ruhig bewußt, wem Sie Ihre schöperische Energie oder Ihre Motivation zu verdanken haben, ohne daraus eine Bindung abzuleiten: das neue Projekt ist nun allein Ihre Sache.
Wenn ich so zurückblicke, dann ist mein Leben einige Male radikal durch die Liebe aus der Bahn geworfen worden, es ist geprägt von Hinterlassenschaften meiner großteils unglücklichen Verliebtheiten und Leidenschaften. Es hat einen Stempel von meinen Geliebten aufgedrückt bekommen - eine Vorstellung, die ich nicht unhübsch finde. Die, die diesen Eindruck hinterlassen haben, werden mir immer nahe sein.
Eine interessante psychische Grenzerfahrung verdanke ich der Begegnung mit U. Da ich sie für bemerkenswert halte, hole ich bei der Schilderung etwas aus. Wirklich nachvollziehbar machen kann ich das Geschehen nicht, das ist bei psychischen Grenzerfahrungen allgemein ein Problem und übersteigt in jedem Fall meine erzählerischen Fähigkeiten, ich möchte aber die wesentlichen Faktoren darlegen, die dazu geführt haben.
Meine erste Begegnung mit U. fand in einer Runde von vier Personen statt. J., den ich schon länger kannte, stellte uns vor, ich setzte mich zu ihnen. Ich war beeindruckt von seinem hübschen Gesicht und sah ihn oft an. Ich bemerkte, daß auch er mich oft und mit Interesse ansah. Als wir dann aufbrachen, verabschiedete ich mich von ihm mit einem Händedruck. Die Art, wie er mich dabei ansah, brachte mich auf den Gedanken: er ist schüchtern!
Da U. in der Wohnung von J. wohnte, hielt ich ihn für dessen neuen Freund. Das brachte die Verliebtheit am Punkt einer kleinen Schwärmerei zum Stillstand. Wenn man gut erzogen ist, hat man Hemmungen, einem anderen etwas wegzunehmen.
Die nächste Begegnung gab es bei einem Spaziergang. Mit dem Verlauf war ich später irgendwie unzufrieden, da ich U. nicht wesentlich näher gekommen war. Ich war inzwischen befangen, die meiste Zeit sprach ich mit J. Immerhin erfuhr ich, daß die beiden kein Pärchen waren, sondern U. nur als Untermieter einquartiert war.
Der nächste entscheidende Punkt war eine vorübergehende Trennung, da U. für 14 Tage in seine alte Heimat verreiste. Räumliche und zeitliche Trennungen können eine große Rolle spielen, da der Verliebte mit seiner Phantasie sich selbst überlassen bleibt, die rasch ins Maßlose schießen kann. Ich hatte mich angeboten, U. bei der Klärung einer rechtlichen Angelegenheit behilflich zu sein und besuchte J. um Dokumente abzuholen. Dabei zeigte mir J. zwei Pornohefte aus dem Besitz von U., mit Aktfotos, auf denen ein um einige Jahre jüngerer U. abgebildet war, alleine sowie zusammen mit anderen. Seinen eigentlichen Lebensunterhalt, so erklärte J. beiläufig, verdiene sich U. mit Gefälligkeiten an reichen Herren, aber er sei auch sonst leicht zu haben.
Die Überformung meines Bildes von U. als eines hübschen, etwas schüchternen Jungen durch diese neuen Erkenntnisse empfand ich als eine Vergewaltigung - ein Bild, in dem ich mich vielleicht nur als sekundäres Opfer fühlte. Auch die Aktfotos, trotz der provokanten Posen, weckten in mir das Gefühl von etwas Wundem.
Ich war damals schon nicht mehr so prüde wie in den ersten Jahren meines schwulen Daseins und hatte kurze Beziehungen gehabt, die nicht auf Verliebtheit sondern auf sexuellem Interesse gegründet waren und in denen es mitunter auch sexuelle Kontakte mit Dritten gegeben hatte, was in mir weniger Eifersucht als eine Art Konkurrenzdenken geweckt hatte. Sex ist, bei aller Wertschätzung, banal verglichen mit einer Verliebtheit, jedoch kann sich der Verliebte Sex in Zusammenhang mit dem/der Geliebten unmöglich banal denken. Verliebtheit zielt auf eine exklusive gegenseitige Bindung ab, eine Bedrohung dieser Bindung durch dritte weckt Eifersucht, vor allem aber weiß der Verliebte, daß er allein imstande ist, das Objekt richtig zu würdigen - es an andere zu verlieren oder mit anderen teilen zu müssen, hieße Perlen vor die Säue zu werfen. Wenn man einmal bei diesem Gedanken angelangt ist, kommt einem meistens der Stolz zu Hilfe. In einer vergleichbaren Situation Jahre später, einem leichten Anflug von Verliebtheit in einen sehr leichtfertigen Jungen, reichte die Vorstellung, in einer Reihe von 100 anderen zu stehen und darauf zu warten, einmal dranzukommen, um mir die Verliebtheit auszutreiben, letztlich verlor ich sogar das sexuelle Interesse, es war mir das Schlangestehen nicht wert.
Im Fall U. hatte ich mich jedoch Hals über Kopf verliebt, vielleicht wegen seiner außergewöhnlichen Attraktivität und der frühen Hoffnung, vielleicht auch, weil ich damals sehr ausgehungert war. Ich war niedergeschmettert, fühlte mich aber sexuell stark angezogen. Ich beschloß, daß es völlig unmöglich sei, unter diesen Umständen an Liebe zu denken. Aber könnte man wenigstens Sex haben?
Meine Erinnerungen an die folgenden Tage und Nächte ist dunkel. Ich schrieb allerdings ein paar tagebuchartigen Notizen nieder, um meine Gedanken zu sammeln. Weil darin auch das Datum vermerkt ist, kann ich zumindest den zeitlichen Verlauf gut rekonstruieren.
Ich schlief fast nichts, hatte Widerwillen vor dem Essen, trank viel Kaffe und viel Alkohol. Die Verliebtheit war bis zu ihrem innersten Kern zusammengebrochen, der besteht in einer Bindung an eine Person. Dort begann sie neu zu kristallisieren. Wenn schon Liebe unmöglich sei, so dachte ich, könnte es eine Freundschaft werden, und vielleicht könnte ich U. irgendwie helfen, aus seinem entwürdigenden Dasein herauszukommen. Mit dieser Haltung konnte ich mich einen Tag lang zufriedengeben, doch ich konnte mich den Wunschträumen nicht entziehen, die nach mehr verlangten. Meine Phantasie schuf ein Wesen, das sowohl das Bild des hübschen, schüchternen Jungen wie das eines hemmungslosen Lustgeschöpfes enthielt, es versprach Zärtlichkeit und Sex jenseits allem Vorstellbaren. Man könnte sagen: der Umstand, daß der Geliebte eine Hure war, wurde durch meine eigene sexuelle Erregung zum kristallisierbaren Mangel. Ich liebte seine Reize und seine Fehler - beide waren von einer überwältigenden Dimension.
Tagsüber erledigte ich die rechtlichen Angelegenheiten, um die zu kümmern ich versprochen hatte. Die Sache war komplizierter als gedacht, und ich mußte mit U. telefonieren, um das Vorgehen zu besprechen. Diese reale, wenngleich distanzierte Interaktion überlagerte sich mit Phantasien, in denen wir uns liebten. Ich entschloß mich, jeden Widerstand aufzugeben und einfach der Stimme meines Herzens zu folgen, auch wenn die Situation, in die ich mich damit begab, mir völlig aussichtslos schien. Man darf, dachte ich, nicht gegen die Liebe kämpfen, man muß sich ihr hingeben. Ich schrieb als Notiz nieder:
"Wer das Wasser fürchtet, der schlägt um sich und ertrinkt. Wer es liebt, der freut sich auf den Tag, an dem der Wind die größten Wellen über das Meer treibt und läßt sich darin herumwirbeln."
Das ist ein recht hübsches Bild, weil es etwas von der Euphorie und den ozeanischen Gefühlen vermittelt, in denen Verliebte schweben, und es ist auch nicht ganz verkehrt: zu große Ängstlichkeit in der Liebe wird dem einen oder anderen ein einzigartiges Stück seines Lebens kosten. Es fehlt aber der Hinweis, daß wir es mit Urgewalten zu tun haben, die auch einen guten Schwimmer verschlingen können. Der tapfere Verfasser jener Zeilen bemerkte bei seinem Spiel mit den Wellen überhaupt nicht, daß die Woge, die ihn trug, schon eine halsbrecherische Höhe erreicht hatte.
Es war am 12. Tag nach meiner ersten Begegnung mit U., ich versuchte in einer Tagebuchnotiz den Widerspruch zwischen meinen realistischen Erwartungen und meinem Verlangen zu beschreiben, als ich Schwierigkeiten bekam. Es gelang mir nicht mehr, meine Haltung in diesem Widerspruch zu bestimmen. Ich bemerkte, daß etwas Außerordentliches und Bedrohliches vor sich ging. Ich konnte den Begriff "Haltung" nicht mehr fassen, er entglitt mir, wie mir überhaupt das Denken entglitt. Im Panik beschloß ich, die Beschäftigung mit der Sache ruhen zu lassen. Als nächstes bemerkte ich, daß erotische oder zärtliche Phantasien über U., die sich bisher unwiderstehlich aufgedrängt hatten, unmöglich wurden. Innerhalb von wenigen Stunden verschwand dann die Verliebtheit als solche. Sie verschwand, so ahnte ich dunkel, nicht wirklich, aber sie war mir nicht mehr zugänglich. Ich wußte von der physikalischen Existenz U.s irgendwo auf dieser Welt, aber ich empfand nicht mehr und nicht weniger für ihn als für irgendeinen anderen der Milliarden Menschen.
Was das Verschwinden der Liebe zurückließ, war ein Wrack mit manifesten Symptomen einer geistigen Störung. In erster Linie war ich rastlos, innerlich und motorisch, mit einem Zwang, ständig in Bewegung zu bleiben, und unfähig mich zu konzentrieren. Genauer: ich war unfähig, den Gegenstand meiner Aufmerksamkeit zu kontrollieren. Was immer ich anfing, es endete innerhalb von Sekunden damit, daß ich es vergaß und in einen inneren Monolog versank, der sich ständig im Kreis drehte. Er handelte nicht von U., der mir in dem Moment ferner war als der Mond, sondern von meiner augenblicklichen Verfassung, so als hätte ich mich selbst ständig zu beobachten und zu beschreiben, um nicht in einem unbeobachteten Moment noch weiter abzugleiten. Im Realitätsbezug fühlte ich mich klar, so erkannte ich beispielsweise deutlich, daß ich mich in den Tagen davor in einen unerfüllbaren Wunschtraum hineingesteigert hatte, aber meine Selbstwahrnehmung war absolut fremdartig - es war definitiv nicht das Gehirn, das zu bewohnen ich gewohnt war. Bestimmte geistige Aufgaben, wie etwa in einer Menge von Gegenständen einen bestimmten zu finden, fand ich kaum lösbar. Ich funktionierte in der sozialen Interaktion, solange sie mich ausreichend fesseln konnte, sodaß mein Zustand nach außen hin kaum auffiel. Ich wirkte vielleicht etwas überdreht und reizbar. Alleine und ohne Außenreize zu sein war beklemmend, ich ging unzählige Male von der Wohnung auf die Straße, wo mir das Licht, der Anblick der Passanten und des Straßenverkehrs einen wohltuenden Eindruck von Normalität vermittelten. Ich hatte ständig leichte Kopfschmerzen.
Dieser Zustand dauerte drei Tage, wobei er am dritten schon deutlich gemildert war. Damals wie heute denke ich, daß die Psyche völlig autonom einen Rettungsmechanismus aktiviert hat, in der Art einer Notabschaltung, als das bewußte Ich dabei war, jede steuernde oder auch nur koordinierende Funktion zu verlieren. Die Quelle der Bedrohung wurde durch das Schließen eines Schotts vom Rest der Psyche abkapselte, in ein Containment verbracht, oder wie immer man sich das vorstellen mag. Ich konnte förmlich die Linien dieser Abwehr spüren, ich wollte daran nicht rühren, war dankbar, daß dieses Schott hielt. In der Phantasie sah ich meine Verliebtheit dahinter eingesperrt wie ein wildes Tier, das vor Hunger brüllte. Zunächst funktionierte die Abwehr gänzlich ohne mein Zutun, später schien sie lückenhaft zu werden, ich unterstützte sie bewußt.
Während der nächsten Wochen führte ich einen stillen, zähen Kampf gegen die Verliebtheit, gestützt von der Ahnung, daß mein Verlangen sonst existenzbedrohende Dimensionen annehmen würde. Wogegen sich die Abwehr im Besonderen richtete, war die sexuelle Blendung, da U. in seinen Facetten (auf den ersten Blick androgyn, hübsch, schüchtern, auf den zweiten sexuell schrankenlos, höchst versiert auf dem Gebiet, lasziv und eindrucksvoll phallisch) alle erotischen Idole in einer Person verkörperte und für die Selbstwahrnehmung seines Gegenübers nichts übrigließ: das ultimative Objekt der Begierde, mit einem Monopol zur Erfüllung aller Sehnsüchte und Lüste, das den anderen blendet (bei Freund symbolisch der Kastration gleichgesetzt) und aus ihm ein seiner inneren Kraft beraubtes, willenloses, nur noch von Verlangen getriebenes Bündel macht. Ein solches Ungleichgewicht erotischer Besetzung ist schon bei einer sexuellen Begegnung problematisch, in der Liebe schlichtweg unerträglich. Ich bin U. noch einige Male begegnet, er hatte ein wirklich hübsches Gesicht, ein süßes Lächeln, er offenbarte ein paar beunruhigende Charaktereigenschaften, die mich unter anderen Umständen nicht abgehalten hätten, aber ihn zu lieben hätte bedeutet, mich selbst zu verlieren. Da sein Anblick mir in einem sehr wörtlichen Sinn Kopfschmerzen verursachte, ging ich ihm aus dem Weg, schließlich verlor ich aufgrund äußerer Umstände jeden Kontakt.
Es handelt sich hier um mein merkwürdigstes Liebesabenteuer, da es sich ausschließlich in meinem Kopf abspielte. Es ist zugleich mein kläglichstes, denn das Schöne an der Verliebtheit besteht darin, sich einem anderen Menschen zu nähern, auch wenn man ihn nicht erreicht, so doch wenigstens ein kleines Stück. U. bin ich nie nähergekommen. Ich hatte mich durch überschießende Phantasie selbst außer Gefecht gesetzt - wobei ich die Möglichkeit nicht ausschließen will, daß mir ein größeres Übel dadurch erspart geblieben ist. Wenn Sie eine lebhafte Phantasie haben und zu heftigen Verliebtheiten neigen, sollten Sie sich nie von einer Gedankenkonstruktion leiten lassen, die etwa so lautet: "Es kann nicht sein, ich will es nicht, aber wenn ich es schon nicht haben kann, dann möchte ich mir wenigstens vorstellen, wie es wäre." Sie bringen sich damit in Teufels Küche, und was fast schwerer wiegt: es bleibt Ihnen nichts.
Aus dieser Schilderung läßt sich immerhin erkennen, daß der Zustand der Verliebtheit zu sehr deutlichen Bewußtseinsveränderungen führen kann, nahe dem Wahnhaften. Die plötzliche Abkapselung des emotionalen Gehalts hatte in meinem Fall den dahinter stehenden Geisteszustand enthüllt, der ohne Ausrichtung auf das Objekt als Ziel und Fokus schwer auszuhalten war. Wir stehen unter körpereigenen Drogen und sind tatsächlich ein anderer Mensch als zuvor oder danach, begonnen damit, wie wir die Welt sehen, fühlen, riechen, schmecken, erleben, wie wir empfinden, handeln und die Dinge bewerten. Der Körper versorgt uns mit dem Mut und der Kraft, die wir brauchen, um die Liebe eines anderen zu erringen. Es ist daher die Warnung angebracht, daß Euphorie Sie zu Fehleinschätzungen treiben kann. Wie Stendhal schreibt:
"Daß wir den Verstand verloren haben, wird als bedrohliches Symptom sichtbar, wenn wir irgendeinen unentschiedenen Umstand für weiß, für unsere Liebe günstig ansehen und ihn kurz darauf, nachdem wir erkannt haben, daß er in Wirklichkeit schwarz ist, immer noch für verheißungsvoll halten."
Die bewußtseinsverändernde Wirkung der Verliebtheit führt zu Diskontinuitäten der Selbstwahrnehmung. Ich war über einen Zeitraum von Jahren kein einziges Mal verliebt, wobei mir dieser Umstand bezeichnenderweise überhaupt nicht aufgefallen ist. Dann kam ein kleiner Anflug von Verliebtheit, und ich war verwandelt. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, was der, der ich vor zwei Wochen noch gewesen war, für interessant und für wichtig gehalten hatte. Parallel zu dieser Diskontinuität erlebt man eine Kontinuität mit seinen früheren Ichs. Richtig bewußt ist mir das geworden, als ich in einer Schachtel mit Papieren aus längst vergangenen Jahren kramte. Zu manchen Zeiten meines Lebens führte ich Tagebücher oder legte Notizen an, in denen ich über Gott und die Welt philosophierte. Vieles von dem, was ich da fand, erschien mir unverständliche Schwafelei und völlig uninteressant. Ich konnte mich als Verfasser nicht erkennen und hätte den Text glatt einem anderen zugeschrieben, wäre er nicht mit meiner Handschrift verfaßt gewesen.
Jedoch, was ich über mein Leben niedergeschrieben habe, wenn ich verliebt war, das war für mich verständlich. Anhand meiner Notizen konnte ich mich in mein früheres Ich hineinversetzen, und das so deutlich, daß ich jede Nuance meines damaligen Erlebens nachempfinden konnte. Ich konnte spüren wie mir das Gesicht von M.s Küssen brannte und ich durch die Stadt ging und pausenlos an einen fremden Mann dachte, mit dem ich die Nacht verbracht hatte. Die Verliebtheiten meiner Vergangenheit erwachten wieder, zumindest die großen. Sie sind wie Wurmlöcher im Raum-Zeit-Gefüge, durch die ich mich im Zustand der Verliebtheit bewegen kann, weil ich derselbe Mensch geblieben bin. Mal jünger, mal älter, mal in den und mal in jenen verliebt, aber der selbe Mensch.
Daraus wird für mich deutlich, daß die Vorstellung, die Verliebtheit sei eine Art Rausch, hervorgerufen durch biochemische Vorgänge, auf jeden Fall zu kurz greift. Die Räusche eines Lebens werden vergessen, ihr Inhalt ist für das Leben ohne Bedeutung. Die, in die ich verliebt war, werde ich nie vergessen. Verliebtheit ist a) ein besonderer Zustand und b) eine Beziehung zu einen besonderen Menschen. Beides erfährt seine Bedeutung aus dem anderen. Man kann es c) auch einfach eine besondere Form des Lebens nennen.
Wenn ich verliebt bin, kann ich irgendeine Seite in Stendhals "Über die Liebe" aufschlagen und die tiefen Empfindungen hinter diesem sperrigen Text spüren. Ebenso geht es mir mit einem Band griechischer Lyrik, bei dem sich das Band der Seelenverwandtschaft über Jahrtausende erstreckt. Bin ich nicht verliebt, liegen Stendhal und griechische Lyrik unberührt im Bücherschrank. Ich wette mit Ihnen, daß Sie gerade verliebt sind, sonst hätten Sie unmöglich den Text bis hierher lesen können.
Die Verliebtheit, so kann man annehmen, ist ein phylogenetisch erworbener Mechanismus, dessen arterhaltender Wert darin liegen könnte, eine Bindung herzustellen, die etwa lange genug anhält, um Nachwuchs in die Welt zu setzen und über die schwerste Zeit zu bringen. Sein Verhältnis zum praktisch immer vorhandenen Anreiz der Sexualität erscheint mir (unter ästhetischen Gesichtspunkten der Konstruktion) etwas doppelgleisig und inkonsequent, man könnte sich durchaus menschliche Fortpflanzung auch ohne das Phänomen der Verliebtheit vorstellen. Interessant ist aber vor allem seine Einbindung in das psychische System.
Ich führe die Verliebtheit auf ein blindes Organ (weniger blumig: auf einen besonderen Mechanismus im Es) zurück, das in unserem Kopf sitzt und still unsere Gedanken belauscht. Blind deshalb, weil es selbst über keinen Zugang zur Realität verfügt, sondern unserem seelischem Innenleben das entnimmt, was es braucht, wobei es sowohl nach Wahrnehmungen wie nach Phantasien greift. Es überläßt uns die Wahl eines attraktiven Partners und die Einschätzung unserer Chancen. Es reagiert - oder auch nicht, je nach seinen eigenen, launenhaften Gesetzen - wenn wir beim Entstehen eines Wunsches angelangt sind.
Sie können dem blinden Organ der Liebe also nie vorwerfen, es zwinge Ihnen einen fremden Willen auf, denn Sie können nicht sagen, Sie hätten es nicht gewollt. Sie haben es gewollt, vielleicht nur in einem kurzen Gedanken. Sie können ihm auch keinen Vorwurf machen, wenn Ihre Liebe nicht erwidert wird. Denn wenn Sie sich verliebt haben, dann haben Sie zuvor Hoffnung gesehen. Wenn diese sich nicht erfüllt hat, haben Sie sich eben verschätzt.
Dieses blinde Organ der Liebe hat eine schlichte Logik. Es vertraut der flüchtigen Eingebung eines Augenblicks, erklärt die Wahl für getroffen, markiert einen Menschen auf dieser Welt als Ziel und sorgt dafür, daß Sie sich in Bewegung setzen, indem es pure, unverdünnte Libido ("Lustsuchenenergie", W. Toman) freisetzt, die strikt an diesem Menschen gebunden ist. Für spätere Revisionen ist das Organ nicht vorbereitet, es bekräftigt die Wahl gegenüber jedem Widerspruch mit noch mehr Lustversprechen und setzt sich mühelos über das hinweg, was man "besseres Wissen" nennt. Sie können dem Organ vorwerfen, es sei zu primitiv für diese Welt - ebensogut könnte man aber auch sagen, wir seien zu raffiniert, berechnend, verlogen, eitel, oder einfach zu kompliziert für die Liebe.
Das Organ reichert Ihre Eindrucke und Vorstellungen mit Emotionen an. Sie empfinden ein zartes Glücksgefühl, wenn Sie an X denken, und denken deshalb immer wieder an X. Sie denken, es wäre schön, X zu küssen, und das Organ bekräftigt die Vorstellung mit einem Feuerwerk von Vorfreude. In kürzester Zeit verwandelt sich dann die Vorfreude in Sehnsucht, und Sie erkennen, daß Ihr Leben unerfüllt bliebe, wenn es nicht gelänge, X zu küssen. Sie sehen, es ist ein System von Belohnung und Bestrafung, eine ständige Anstachelung und Verstärkung, eine Verführung, wobei es im wesentlichen Ihr Geist ist, der die Inhalte entwickelt, die dann vom Organ mit den süßesten und bittersten Empfindungen verwoben werden, die ein Mensch erfahren kann. Es veranlaßt Sie, einem inneren Dialog zu führen, in dem Wahrnehmungen und Gedanken sich immer weiter mit Gefühlen anreichern. Daraus bilden sich starke Motive, die nach Handlungen verlangen, damit Sie Ihren Wünschen näher kommen. Jeder Widerstand verursacht Schmerz, und Sie werden Möglichkeiten der Überwindung ersinnen, die mit einer um so größeren Verheißung von Glück versponnen werden. Es ist ein sich in der Intensität steigernder Prozeß, vorgegeben ist nur die Richtung, nämlich zueinander, die Details entwickelt Ihr Bewußtsein. Am Ende hat das Organ einen beiläufigen Wunsch in einen Trieb verwandelt, der Sie vorantreibt wie einen Zugvogel, und Sie werden - vielleicht nicht ohne Schrecken - feststellen, daß Sie selbst freudig daran mitgearbeitet haben, Ihrem Leben ein neues Ziel zu geben.
Der wohl unbestreitbare Umstand, daß die Verliebtheit ein psychischer Ausnahmezustand ist, sollte nicht von vornherein als Entschuldigung für Dummheiten herhalten, etwa im Sinne einer Unmündigkeitserklärung. Sie sind zu jedem Zeitpunkt voll und ganz für sich und Ihr Handeln verantwortlich. Jede Verliebtheit, und sei sie noch so aussichtslos und unglücklich, verdient es, daß Sie das Beste aus ihr machen, denn sie weckt die tiefsten und schönsten Gefühle, zu denen Menschen fähig sind, und diese sollten sich ohne ein Gefühl der Scham in Ihre Seele versenken. Was Sie im Zustand der Verliebtheit tun, muß einer kritischen Betrachtung standhalten, vor allem in ihren eigenen Augen. Die größten Opfer einschließlich der größten Peinlichkeiten, erbracht für die Liebe, haben mein Verständnis, vielleicht sogar meine Hochachtung, aber es ekelt mich an, wenn derselbe Mensch hinterher jammert. Unter Umständen sind gerade im Augenblick der größten Verliebtheit Entscheidungen nötig, die Ihnen selbst oder anderen tiefen Schmerz bereiten. Als ich M. verließ, tat ich es deshalb, weil ich nicht wollte, daß der, den ich leidenschaftlich liebte, in eine Situation kommen sollte, in der er mich verletzen würde. Ich glaube, die Entscheidung war richtig, denn ich kann heute an M. denken ohne Vorwurf und Bitterkeit. Ich liebe M. noch immer.
Solange Ihre Liebe sich günstig entwickelt und keine großen Hindernisse auftauchen, werden Sie kaum einen Unterschied zwischen sich als denkendes und handelndes Subjekt und Ihrer Verliebtheit machen. Sie werden sich sagen: Ich bin verliebt. Sie werden das begrüßen und genießen. Die Kraft, die Sie zu dem/der Geliebten hintreibt, werden Sie als ihre eigene Kraft verstehen, Ihre Gefühle und Ihr Denken sind eins, und beide sind auf das gleiche Ziel gerichtet.
Wenn Sie auf Hindernisse stoßen und die Vernunft Ihnen sagt, daß Ihre Liebe unmöglich, hoffnungslos, vielleicht sogar falsch ist, tritt eine Spaltung ein. Sie werden nämlich bemerken, daß diese Einsicht überhaupt nichts an Ihren Antrieben und Wertigkeiten ändert. Sie macht sie höchstens traurig, denn es gibt nur dieses eine Glück für Sie zu gewinnen im Leben und sonst keines.
Am unmittelbar schmerzhaftesten ist es, wenn der/die Geliebte sich an Ihrer Stelle einen anderen nimmt. Neben dem Schmerz durch den Verlust leiden Sie auch unter einer persönlichen Kränkung und unter Eifersucht, jedoch ist die Sache insofern einfach, als Sie keine große Wahl haben. Der Konflikt besteht in dem Fall darin, daß Sie Ihre Verliebtheit gerne los wären. Gäbe es dafür einen Schalter, würden Sie ihn drücken. Jedoch es gibt keinen, Sie müssen warten, bis sie von selbst verschwindet, und hoffen, daß die Wunde ohne häßliche Narben verheilt.
Kaum weniger schmerzhaft aber ungleich schwieriger ist die Situation, wenn innere Konflikte Sie zum Aufgeben der Liebe zwingen. Wenn Sie sich beispielsweise entscheiden, zugunsten Ihrer alten Liebe die neue sein zu lassen. Es wird Ihnen schwer fallen, die Hoffnung fallen zu lassen, besonders dann, wenn Sie einigermaßen sicher sein können, daß alles nur von Ihrer Entscheidung abhängt. Die Gefahr, sich Selbsttäuschungen hinzugeben und doch einen heimlichen Funken Hoffnung am Leben zu erhalten, ist sehr groß.
Die gräßlichsten Konflikte ergeben sich, wenn späte Erkenntnisse die Verliebtheit ihres Werts und ihrer Würde berauben. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Sie sich in einen Heiratsschwindler verlieben und entdecken müssen, daß Ihre Liebe einem Wesen gegolten hat, das so, wie Sie es liebten, nie existierte. Solche Erfahrungen sind monströs und können eine Seele sehr nachhaltig verwunden. Sie können sich nur damit trösten, daß niemand davor gefeit ist. (Stendhal: "wenn das geliebte Wesen wirklich gute Eigenschaften besitzt, so verdankt man es bloß einem glücklichen Zufall.")
In all diesen Fällen kommt es zu einem Riß zwischen dem, was die Verliebtheit Ihnen zu wünschen und zu verwirklichen aufträgt, und den Wünschen und Zielen Ihres kritischen Ich. Sie werden versuchen gegen Ihre Verliebtheit ankämpfen.
Bringe Wein, bring Wasser, Junge,
bring uns blumenbunte Kränze
für das Haupt, hol her, ich will jetzt
mich mit Eros fäustlings schlagen.(Anakreon, Übers. W. Marg)
Es wird ein bitterer Kampf werden, denn wenn Sie ihn gewinnen, verlieren Sie etwas, das Ihnen bisher ungeheuer viel bedeutet hat. Wenn es Ihnen gelingt, ein Stück Terrain zu erobern, wird dessen Anblick Ihnen vielleicht so trostlos scheinen, daß Sie es umgehend wieder preisgeben und sich lieber in eine wahnwitzige Hoffnung flüchten.
Es gibt tatsächlich eine Möglichkeit, die Verliebtheit über kurz oder lang zum Verschwinden zu bringen: Sie müssen Begegnungen mit dem/der Geliebten meiden, sofern die Umstände das erlauben, und ansonsten auf das Mindestmaß beschränken und als Automat handeln. Sie dürfen nicht beobachten und keine Bilder in der Erinnerung pflegen. Vor allem aber dürfen Sie nicht einen einzigen Wunschtraum zulassen und keinen Gedanken, der Ihnen Hoffnung macht. Wenn Sie sich dabei ertappen, wie Sie still lächelnd dastehen und sich einer Vorstellung hingeben, wie schön es war oder wie schön es hätte werden können, dann ist es zu spät und Ihre Bemühungen sind um gut eine Woche zurückgeworfen. Wenn Sie eine Verwundung davongetragen haben, wird es insofern leichter, als die Beschäftigung mit dem Thema einen charakteristischen Schmerz verursacht, der Sie von gedankenlosen Träumereien abhält.
Mit anderen Worten: Sie müssen im inneren Dialog, den das blinde Organ der Liebe mit Ihrem Geist führt, verstärkt die Kontrolle ergreifen. Da das Ich als bewußte Instanz bisher die Antriebe der Verliebtheit mit entwickelt und gedeckt hat, haben Sie anfangs einen schweren Stand, denn Sie müssen Positionen entgegentreten, die Sie selbst in voller Überzeugung hervorgebracht haben. Umgekehrt ist das Organ darauf ausgerichtet, Widerstände durch eine Verstärkung der Antriebe zu überwinden, und arbeitet ohne Zögern darauf hin, widerstrebende Ich-Anteile zu überwinden. Und da man begreiflicherweise lieber angenehme als unangenehme Gedanken pflegt, besteht die ständige Gefahr, daß die Ich-Fähigkeiten zur Realitätsbewältigung, zur Entwicklung von Vorhaben und zum Treffen von Entscheidungen - ja, man muß es so sagen - korrumpiert werden.
Als ich in U. verliebt war, gewöhnte ich mir an, das Organ der Liebe zu "besprechen". Ich legte ihm also geduldig dar, daß ich ihm falsche Bilder gesandt, zuviel geträumt und zu wenig beobachtet hatte, daß in der wirklichen Welt keine Beziehung zu dem Menschen bestünde, den wir uns gemeinsam erwählt hatten, und eine solche nicht möglich sei. Da das Organ von einer schlichten Art ist, wird es auf derartige Irritationen zunächst mit einer Intensivierung des Verlangens reagieren, es wird Sie in der Folge hartnäckig und subtil dazu verleiten, Um- und Schleichwege zu erfinden, die möglicherweise doch noch zum Objekt führen, es wird Sie die Freundlosigkeit des Lebens kosten lassen, es wird Sie bis zuletzt mit dem Gefühl quälen, daß Sie und dieser eine Mensch füreinander bestimmt sind, und es wird ganz am Schluß einen Ton ausstoßen, den kein Ohr hören und kein Mensch beschreiben kann und der Sie dazu bringt so zu weinen, daß Sie glauben, Sie könnten nie mehr damit aufhören, ehe es sich wieder in seinen unberechenbaren Dämmerschlaf zurückzieht.
Was ich beinahe vergessen hätte zu erwähnen, da ich selbst in dem Punkt nie große Probleme hatte: es ist sehr wichtig, die Macht, die die Verliebtheit dem Ich gegenüber hat, von der Macht zu trennen, die die geliebte Person innehat. Die Macht der Liebe müssen wir anerkennen und respektieren, einerlei ob wie sie begrüßen oder fürchten. Sie treibt uns dazu, Dinge zu tun, die wir unter normalen Umständen strikt von uns weisen würden, und wir können immer nur hoffen, daß es gelingt, Grenzen der Selbsterhaltung rund um den eigenen Lebensbezug zu verteidigen ehe uns die Verliebtheit den letzten Funken Verstand aus dem Hirn bläst. Im Falle einer konflikthaften Liebe steht das Ich also den Antrieben der Verliebtheit gegenüber, die tatsächlich eine schwer kontrollierbare Macht darstellen, und unabhängig davon dem Objekt als realer Person, der in einer Liebesbeziehung nur das zusteht, was wir von uns aus zu geben bereit sind. Ich konnte Formen der Hörigkeit aus Liebe beobachten, die ich mir nur so erklären kann, daß der Liebende entweder diese Unterscheidung nicht trifft, sodaß ihm der/die Geliebte wie ein Gott oder Dämon erscheint, oder eine heimliche Lust aus Erniedrigungen bezieht.
Das Ich, das unsere verschiedenen Antriebe und Lebensbezüge irgendwie zu koordinieren hat, ist aufgefordert, gegenüber der Verliebtheit eine Haltung einzunehmen, die möglichst klar und ohne versteckte Hintertürchen ist. Am schönsten ist es natürlich, sich ihr ohne Vorbehalte hinzugeben, was in dem Fall im Mindesten die Bereitschaft bedeutet, sich auf das Werben, auf das Risiko einer Zurückweisung, auf Schmerz, und letztlich auf die Begegnung mit einem Menschen einzulassen, dessen Wesen jede Menge Überraschungen für Sie bereithalten wird, und das alles nur für die verschwindend kleine Chance, daß er Ihre Liebe erwidert und für eine Nacht, einen Monat oder eine ungewisse Zeit die Sehnsucht gestillt werden kann, die die Liebe Ihnen eingeflößt hat. Wenn Sie dazu bereit sind, dann sind Sie ein glücklicher Mensch, auch wenn die Chancen 1:10 oder 1:1000 gegen Sie stehen.
Vor den größten Schwierigkeiten steht jemand, der sich zwar mit aller Macht zu einem Menschen hingezogen fühlt, gleichzeitig jedoch nicht bereit ist, bestehende, ältere Bindungen aufzugeben, zumal ihm vielleicht sein Verstand sagt, daß er es früher oder später bereuen würde. Wenn Sie beispielsweise beschließen, zugunsten Ihrer bestehenden Partnerschaft einer Verliebtheit nicht nachzugeben, im nächsten Moment aber eine Situation phantasieren, in der Sie die Kontrolle über sich selbst verlieren, dann ist Ihre Haltung noch nicht ganz ausgereift. Das geht auch nicht von heute auf morgen, aber vergessen Sie bitte nicht, daß das blinde Organ der Liebe jede Eingebung belauscht, sodaß Sie sich durch das Wechselspiel von Widerstand und Hoffnung in eine Leidenschaft hineinsteigern können, die praktisch nur auf den Eigenschwingungen Ihrer Unentschlossenheit beruht. Eine Aussprache oder zumindest eine Selbstaussprache in Form eines Tagebuchs oder dergleichen kann in dieser Situation hilfreich sein, da allein das Formulieren der verschiedenen Bestrebungen und ihrer Unvereinbarkeiten das Ich stärkt und Einsichten und Entscheidungen eine gewisse Verbindlichkeit verleiht.
Es gibt Grund anzunehmen, daß Verzicht, so notwendig und wohlbegründet er rational auch scheinen mag, in der Logik des Organs eine nicht vorgesehene, unzulässige Operation darstellt. Es beugt sich - und auch das höchst widerstrebend - einzig der schlichten Unmöglichkeit, die sich in Ihrem Innenleben darin manifestiert, daß Ihnen kein Weg mehr einfällt, der Sie dem/der Geliebten unter annehmbaren Umständen näherbringen könnte, und Sie an kein Wunder mehr glauben können. Maßgeblich ist die Phantasietätigkeit. Solange Ihre Phantasie Hoffnung produziert, wird die Verliebtheit Sie bis zur Erschöpfung begleiten. Im Extremfall können die inneren Konflikte Sie dermaßen überfordern, daß irgendwann psychische Kräfte der Selbsterhaltung in Aktion treten, die dem Dauerstreß auf die eine oder andere Art ein Ende bereiten. Das Ergebnis kann mitunter bizarr sein.
Zum Glück verleiht die Verliebtheit dem Liebenden auch ungeheure Kräfte. Er, der sich einem anderen Menschen gegenüber öffnet, dessen verwundbare Seele ungeschützt ist, und der so sehr sensibilisiert ist, daß ein kurzes Lächeln ihn eine Woche lang glücklich macht, kann Unglück von einem Ausmaß ertragen, das jeden normalen Menschen dazu brächte sich ohne eine Sekunde der Überlegung schreiend aus dem nächsten Fenster zu stürzen.
Ich führe diese Kräfte darauf zurück, daß wir im Zustand der Verliebtheit zu einem besonderen Verhältnis zum Universum finden. Sieht der Verliebte ein Flugzeug am Himmel, so kann er fühlen, was das Flugzeug fühlt, wenn es fliegt. Er spürt den Wind als erotisches Streicheln, das er erwidert, und kann die Gedanken alter Steine lesen. Verliebte verspüren mehrmals am Tag den heiligen Schauer, der ihnen die Verbundenheit mit kosmischen Mächten oder höheren Wesen mitteilt. Menschen wie ich, die ein völlig rationales Weltbild haben, beginnen dann mit den Göttern zu sprechen. Man kann die ozeanischen Gefühle der Verbundenheit mit dem Universum (die genaue Beobachtung dieser Gefühle verdanke ich H.) auf die körpereigenen Drogen zurückführen, die uns durch die Verliebtheit zufließen. Ich bevorzuge aber, ohne dem zu widersprechen, die Binnenperspektive, und die sieht so aus, daß wir Bilder brauchen, die unsere Gefühle tragen können. Der Verliebte streut seine Liebe über das ganze Universum aus. Er kann gar nicht anders. (Die Erkenntnis, daß der Mensch an sich ein liebenswertes Geschöpf ist, wäre mir ohne gelegentliche Verliebtheit schwer zugänglich.) Die Gefühle, die einem die Liebe gibt, können nicht richtig zugeordnet, schon gar nicht gehortet werden: es sind die Gefühle der Welt, die man sich belebt denkt und der man sich verbunden fühlt. Am Tag des Unglücks gibt einem die Resonanz aus den geschaffenen Verbindungen vielleicht Kraft genug, um es zu bewältigen.
Die Sache mit den Göttern hat auch den Hintergrund, daß ich die Verliebtheit an sich als etwas Gegebenes betrachte, dem Willen entzogen. Als neugieriger Mensch kann man es sich nicht verkneifen, mit der Sache zu experimentieren, wenn man glaubt, ein Stück davon verstanden zu haben. Jedoch, es ist mir niemals gelungen, eine Verliebtheit willentlich herbeizuführen, noch hatte ich jemals die Kraft eine zu unterbinden oder mich abzuschirmen, nur um einer Unruhe in meinem Leben und unberechenbaren Risiken aus dem Weg zu gehen. Ich sehe es daher so: die Liebe ist etwas Göttliches und Gottgegebenes, was wir dann daraus machen ist unsere Sache und nie vollkommen.
Abgesehen von diesen eher esoterischen Überlegungen ist die Verliebtheit eine reale Macht in unserer Welt, sie bringt die Menschen dazu, aus sich herauszutreten, über sich selbst hinauszuwachsen, die verrücktesten Dinge zu tun, Grenzen zu überschreiten, und Mühen auf sich zu nehmen, um einander nahe zu kommen und einander - vielleicht - zu finden. Daher wird sie von den Künstlern seit jeher verehrt, während ihr die Hüter der Grenzen und Hürden mit Argwohn begegnen. Jede Verliebtheit, völlig unabhängig davon, ob sie sich erfüllt oder nicht, ist eine Chance im Menschenleben, sich aus der Perspektive des Alltags zu erheben. Sie legt Kräfte frei, die unter anderen Umständen nie zum Vorschein gekommen wären. Insofern ist keine Verliebtheit vergebens, und wenn es einem gelingt, im aussichtslosen Fall daraus zu flüchten, war auch das nicht vergebens. In jedem Fall bleibt die Erinnerung an einen ganz besonderen Menschen mit mehr oder weniger vielen Schattenseiten, dem man sich genähert hat soweit die Kräfte und die Umstände es zuließen. (Leider kommt es sehr selten vor, daß zwei zugleich im richtigen Moment zupacken.)
Oft bleibt auch ein gewisser Wesenszug, eine Geste, eine Eigenheit, die durch Identifikation, gewissermaßen als bleibendes Andenken, in das eigene Selbst übergeht - Homosexuellen fällt das vielleicht leichter als Heterosexellen. Die weltfremde Versponnenheit, die mich dazu bringt, solche Texte zu schreiben, habe ich L. zu verdanken, meiner ersten großen Liebe.
Einen negativen Effekt hat die Verliebtheit auf die Wirtschaft. Verliebte essen wenig und sind an Konsumgütern und Zerstreuung kaum interessiert. Durch ihre Geistesabwesenheit sind sie auch die denkbar schlechtesten Arbeiter.
Ich hätte nichts über Verliebtheit schreiben können, ohne zumindest ein paar alte Freunde (in meinem Inneren) vorzustellen, die ich sehr geliebt habe. Da diese Dinge intim sind und nicht nur mich betreffen, habe ich meinen aktuellen Lebensbezug ausgeklammert und mich auf Begebenheiten beschränkt, die sehr lange zurückliegen, sodaß sie praktisch nur noch für mich existieren. Ich bin dem Gastgewerbe sehr verpflichtet. Meine Begegnung mit M. verdanke ich einer Einladung und einem freundlichen Grinsen und Winken vom Nachbartisch. R. hat mir eine leere Bierflasche aus der Hand genommen, mit der ich mich gedankenverloren spielte, und mich dabei herausfordernd angeblickt - die erste bewußte Begegnung mit seinen Augen. Vor 16 Jahren hatte ich die Geistesgegenwart, einen hübschen Jungen mit langen blonden Locken auf eine Tasse Kaffee einzuladen. Das war die glücklichste Tat meines Lebens, auf die ich hier deshalb nicht eingehe, da sie mein Leben in der Gegenwart und meine Privatsphäre betrifft.
Zitate stammen aus:
Stendhal: Über die Liebe. Insel Verlag 1982
Griechische Lyrik. Reclam Verlag 1983
(C) Franz Kottira 2004
Kontakt: kottira@webnet.at
Geschrieben mit Jasword im Sommer 2004. Online seit 15. 8. 2004,
letzte Änderung 20. 11. 2004.