Der folgende Text fand
sich im Nachlaß meines Vaters. Als Überschrift steht
"2. Konzept". Offenbar handelt es sich um
Vorarbeiten in der Art einer Gedankensammlung für eine
Veröffentlichung, zu der es dann nicht mehr kam. Der
maschinengeschriebene Text ist mehrmals überarbeitet
worden, denn neben handschriftlichen Korrekturen sind
viele Absätze ausgeschnitten, eingeklebt oder in
korrigierter Version neu geschrieben. Manche Teile waren
ungeordnet. Schon aus diesem Grund hielt ich es für eine
gute Idee, alles neu abzutippen. Neben dem persönlichen
Wert, den der Text für uns Nachkommen hat, vermittelt er
ein dichtes und nachvollziehbares Bild von der damaligen
Zeit, ohne die Mauern, die viele der damaligen
Zeitgenossen gegen die Faszination und den Schrecken des
Nationalsozialismus zu ihrem persönlichen Schutz
errichtet haben. Die Schilderung ist also mutig - in dem
Sinn, wie mein Vater Mut immer als eine Tugend und als
ein Problem selbstverantwortlichen Denkens und Handelns
verstanden hat. Der Autor, Oberschulrat Franz Kottira, wurde 1928 in St. Johann im Pongau geboren. Als junger Lehrer unterrichtete er an der Volksschule St. Johann, später an der Hauptschule Bischofshofen. 1964 wurde er Hauptschuldirektor in Bürmoos, wo er mit seiner Frau Inge bis zum gemeinsamen Tod 1995 lebte. Kontakt-/Rückfrageadresse: Franz Kottira jun. kottira@webnet.at |
Links im Bild: der junge Franz Kottira |
Meine früheste mit dem Nationalsozialismus verbundene Erinnerung reicht in jene Zeit zurück, da ich als Kind im Pöllnhaus wohnte. Dieses stand im Beamtenviertel meines Heimatortes, das bürgerliches Gepräge hatte. Im Pöllnhaus lebten allerdings keine Beamten. Im Erdgeschoß und auf dem Dachboden wohnten Menschen am Rande. Sie gehörten zur untersten Schicht des Ständestaates. Im Erdgeschoß bewohnte die Alt-Bergerin ein Zimmerchen. Im Dachgeschoß war ein kleiner Raum ausgebaut worden. Darin lebten meine Eltern und ich - eine Familie in einem etwa 16 Quadratmeter großem Zimmer. Im Sommer war es an schönen Tagen unerträglich heiß. Im Winter fror über Nacht die Türe ein. Meine Mutter wusch damals - es war in den frühen dreißiger Jahren - die Wäsche der sogenannten "Besseren", und in den schwersten Zeiten mußte ihr Arbeitslohn die ganze Familie ernähren.
Die schönste Wohnung im Haus, und die einzige, die über ein Bad und WC verfügte, wurde von einem kinderlosen Ehepaar illegaler Nationalsozialisten bewohnt.
Hin und wieder unterhielt sich meine Mutter mit der Alt-Bergerin. Ich sehe die Greisin noch vor mir. Sie saß beim Küchentisch. Wenn ich erspähen wollte, was darauf lag, mußte ich als Dreijähriger meinen Hals strecken. Die Alt-Bergerin ballte die Fäuste und zischte und murmelte unverständliches Zeug. Erst viel später erklärte mir meine Mutter, was die Uralte damals gesagt hatte. Ihrem zahnlosen Mund entfuhren Schimpfwörter: "Hitler Gelumpe, Hitler Gelumpe!" und eine düstere Prophezeiung: "Ganze Dörfer und Städte werden vernichtet werden." Die Alt-Bergerin sagte das alles im ärgsten Pongauer Dialekt. Mit "Hitler Gelumpe" meinte sie wohl alle Nationalsozialisten, aber ihre zornige Geste war nach dem Ehepaar illegaler Nationalsozialisten im ersten Stock gerichtet.
Die Alt-Bergerin war, wie ich rückschauend sagen kann, eine Kassandra aus dem Volk. Ihre Prophezeiung wurde in schrecklichem Ausmaß Wirklichkeit.
Das Ausmalen unserer Einzimmer-Wohnung war eine einfache Sache. Alles, was es an Einrichtung gab, wurde in den Dachboden hinausgestellt. Ein Arbeitskollege des Vaters, der Ferdl, malte den Raum aus. Dabei zog er einmal mit kräftigen Bürstenstrichen ein seltsames Zeichen an die Mauer. Ich erinnere mich deshalb daran, weil die Mutter zutiefst erschrak. Erst später lernte ich den Namen des Symbols und seine Bedeutung kennen. Es war ein Hakenkreuz, das jedem der kam sofort aus der kahlen Wand ins Auge springen mußte. Der Ferdl beruhigte meine Mutter, indem er mit einigen kurzen Strichen dem Zeichen eine ganz andere Gestalt gab. Er verwandelte, wie ich Jahre später erfaßte, das Hakenkreuz in ein Krukenkreuz. Die beiden Kreuze waren Begleiter meiner Kindheit. Das eine sah man am lichten Tag, das andere flammte des abends auf den Bergen auf. Meine Eltern hatten in jenen Jahren allerdings noch ein drittes Kreuz zum Begleiter - die Armut.
Meine Mutter gab mir hie und da ein Zuckerl. Es war nicht ratsam es zu lutschen, wenn Vater da war. Geschah es doch, so wurde ich des Zimmers verwiesen. Er mochte die schnalzenden Laute des Lutschens nicht hören. So daß ich dann auf einer Truhe, die links vor der Eingangstür unseres Zimmers stand, und lutschte mit bitteren Gefühlen mein Zuckerl. Ein trübes Licht beleuchtete das Gebälk des Dachbodens und seinen grob betonierten Boden. Es war kalt und ich fühlte kindlichen Haß gegen den Vater, den ich fürchtete.
Selten nur zeigte er Zuneigung. Vielleicht mochte er mich die meiste Zeit nicht leiden, war ich doch ein zusätzlicher Esser in harter Zeit. Vielleicht auch, wie ich rückblickend vermute, weil er sich durch mich an Mutter gebunden fühlte. Er sprach manchmal davon wegzugehen, wo anders Arbeit zu suchen, wovon Mutter nichts hören wollte. Er hatte schon vorher eine Frau mit zwei Kindern, die er gezeugt hatte, sitzen lassen. Ich lernte eine Halbschwester kennen, als ich schon Lehrer war. Ich fand keinerlei Ähnlichkeit, andererseits bestritt Vater auch nicht die Vaterschaft.
Mein Vater war, obgleich in Hackenbuch bei Moosdorf geboren, staatenlos. Sein Vater, der wie so viele Arbeiter aus dem böhmischen Raum nach Bürmoos gezogen war, um für den reichen Fabriksherren Ignaz Glaser Torf zu stechen oder Ziegel zu brennen, hatte nach dem Zusammenbruch der Monarchie nicht für Deutsch-Österreich optiert. Das machte in der Folge meinen Vater staatenlos. Als Staatenloser verlor er immer vor seinen österreichischen Kollegen die Arbeit. Er war Hilfsarbeiter. In der Vollkraft seines Mannesalters mußte er zusehen, wie sich Mutter abrackerte. Abends, wenn es schon dunkel war, ging er ruhelos den freien Platz vom Herd zum Fenster auf und ab. Es waren nur wenige Schritte im kleinen Zimmer und ich saß still in einer Ecke. "Ausgesteuert" - wie oft habe ich als Kind dieses Wort gehört, und zwanzig war eine magische Zahl. Ich erinnere mich heute noch an diesen beiden Wörter. Ich konnte damals ihre furchtbare Bedeutung nur ahnen. Mir fehlten die klaren Begriffe, aber ich fühlte die Angst der Eltern. Heute weiß ich, daß mein Vater die Arbeitslosenunterstützung nur bekam, wenn er zwanzig Arbeitswochen zusammenbrachte. Wenn es ihm gelang, folgte darauf die Notstandsunterstützung für weitere zwölf Wochen. Nach dieser Zeit konnten Österreicher beim zuständigen Gemeindeamt um Armenversorgung ansuchen. Mein Vater besaß jedoch kein Heimatrecht. Er war nicht "zuständig", wie man damals sagte. Den hellgrünen Heimat-Schein, womit von der Landgemeinde bestätigt wird. daß er das Heimatrecht besitzt, konnte er nicht vorweisen. Er war heimatlos.
Seine Arbeitslosenunterstützung betrug 12,60 Schilling, die Notstandsunterstützung machte 10 aus. Die Miete für die Einzimmerwohnung im Dachboden betrug zehn Schilling. In jener Zeit war aber mein Vater oft "ausgesteuert", er bekam weder Arbeits- noch Notstandsunterstützung. Und doch, zu Weihnachten erleuchtete ein wunderschöner Christbaum unser Zimmer, in dem es tagsüber warm und gemütlich war. Der Vater sorgte dafür. Schon im Sommer, wenn er im Walde Knittel-Holz sammelte und schnitt, suchte er eine besonders schöne Tanne aus.
Das Weihnachtsfest wurde uns jedoch verleidet. Die Kinder der Armen des Ortes wurden zu einer Weihnachtsfeier mit Bescherung eingeladen. Die Aktion ging von der christlich-sozialen Seite aus. Ich wurde dazu nicht eingeladen, was weder christlich noch sozial war, und meine Mutter zutiefst kränkte. Ich fühlte mich als Ausgestoßener. Warum das geschah, erklärte mir die Mutter. Sie war mit meinem Vater nicht verheiratet. Man nannte das damals "wilde Ehe", wenn Menschen zusammenlebten ohne den Bund der Ehe geschlossen zu haben. Ich war als lediges Kind zur Welt gekommen. Meine Eltern hätten gerne geheiratet, und haben es Jahrzehnte später auch getan, aber damals hätte dieser Schritt bedeutet, daß nicht nur der Vater sondern auch Mutter und Kind staatenlos geworden wären.
Der Name Dollfuß ist in meinem Gedächtnis mit der großen Dollfußmarke verknüpft. Sie kostete 2 Schilling. Ich selbst sammelte keine Briefmarken, wohl aber mein älterer Freund Wolfgang Tratz, kurz Wolfi genannt. Ich erinnere mich nicht, in jenen schweren Jahren je zwei Schilling in der Hand gehalten zu haben. Zwei Schilling waren eine unvorstellbar hohe Summe für ein armes Kind. Eine silberne Schillingmünze war damals für mich viel mehr wert als heute eine Tausend Schilling Banknote.
Schuschnigg besuchte einmal St. Johann. Es war vielleicht 1936 oder 1937. Wir Schulkinder säumten die Straße vom Bahnhof weg und winkten mir rot-weiß-roten Fähnchen.
Aus jener Zeit Schuschniggs ist mir ein dreieckiges Abzeichen in Erinnerung. Es glänzte und hatte die Farben rot-weiß-rot, dazu den aufgedruckten Text "Seid einig". Gerne hätte ich ein solches Abzeichen besessen. Es wurde von Angehörigen einer vaterländischen Jugendorganisation getragen. Für eben diese Organisation hatte der Tischler Leirer Holzgewehre machen müssen. Es waren ihm einige übriggeblieben, die er entweder verschenkte oder den Kindern der begüteteren Familien im Beamtenviertel verkaufte. Jedenfalls spielten wir damals auch Soldaten. Wolfi hatte einen französischen Stahlhelm und einen echten Tornister. Dazu kamen ein paar braune Holzgewehre. Ob Wolfi an jene Soldatenspiele zurückdachte, als er an der zusammenbrechenden Ostfront, bedenklich nahe an der deutschen Grenze stand? Er fiel.
In den Wintern meiner Kindheit war Anfang Dezember schon immer Schnee. Die Straßen blieben schneebedeckt, so daß Pferdeschlitten mit leisem Geklingel unterwegs waren. Wir fuhren mit unseren Schlitten ins "Loch", so nannten wir die steile Abfahrt, die von einem Nebenweg der Promenade zum Pumpwerk und zur Kaserne führte. Es war eine fröhliche Kinderschar und wenn es darum ging, wer am weitesten fuhr, spielten auch Herkunft, Armut und Reichtum der Eltern keine Rolle mehr.
Zu den Kindern, mit denen ich gespielt habe, gehörte auch Peter Lichtenturm, der Sohn Baron Lichtenturms, der kurze Zeit im Beamtenhaus wohnte und wohl in der Bezirkshauptmannschaft als Beamter tätig gewesen sein dürfte. Der ältere Sohn des Ehepaars Lichtenturm hieß Bela, genannt Beli. Er war wohl zu alt, um mit uns Kleinen zu spielen. Zum Haushalt des Barons gehörte auch Tschaki, ein Rabe mit gestutzten Flügeln, der auf uns Kinder losging.
Meine Mutter wusch die Wäsche der Familie Lichtenturm, auch die Unterhosen des Herrn Baron. Ich erinnere mich noch ihrer abfälligen Bemerkungen darüber. Sie machten deutlich, daß gleichgültig wie hoch der gesellschaftliche Standesunterschied auch sein mochte, es auch eine Gleichrangigkeit im biologischen Sinn gab, und eine Rangordnung der Reinlichkeit. Meine Mutter war außerordentlich sauber.
Es gab im Beamtenviertel Eltern, die ihre Kinder nicht mit jenen aus unteren Schichten spielen ließen. Die Eltern Wolfis gehörten nicht dazu. Die Familie Tratz wohnte im obersten Stock des Andexer Neubaus. Der Andexer Neubau bestand aus drei Häusern, die eine Einheit bildeten und jeweils durch eine große Betonstiege zugänglich waren. Die Familie Tratz wohnte im dritten Stock des ersten Hauses. Die Eltern Wolfis hatten überhaupt nichts dagegen, daß er mit mir und meinesgleichen spielte. Das sogenannte Turnerfeld, ehemals Sportplatz des Deutschen Turnvereins, war unser beliebtester Spielplatz. Der Turnverein war uns verboten. Ich erinnere mich noch an die Aufschrift "Deutscher Turnverein". Darüber war ein Art Hakenkreuz, dessen Querbalken aber gebogen waren, sodaß das Symbol einem Rad glich. Am nördlichen Ende des Turnerfelds stand das Turnerhäusl mit allerlei Sportgeräten, Fechtausrüstungen etc. Die Fenster waren vergittert, was aber für unsere schlanken, wendigen Bubenkörper kein Hindernis darstellte. Wo immer der Kopf durchschlüpfte, folgte der Rest. Wir holten uns, was wir für unsere Spiele brauchten, fochten mit Säbeln und warfen den Speer und turnten auf dem Reck, das im Freien aufgestellt war.
Zum Wolfi durfte ich auch in die Wohnung. Er lieh mir seine Karl May Bände zum Lesen, es waren über dreißig. Das war die Ausnahme. Die meisten Beamten zählten sich zur gehobenen Schicht des bürgerlichen Ortes und es wäre ihnen nie eingefallen das Kind eines Hilfsarbeiters in ihre Wohnung zu lassen. Manche ließen ihre Kinder nicht einmal zur fröhlich spielenden Kinderschar.
Für die Bewohner des Andexer Neubaus waren wir wohl manchmal auch eine Plage. Wir lärmten und liefen im Spiel mitunter durch die Häuser und Gärten. Manchmal tauchte die alte Frau Stürzenbaum hinter dem Fenster auf und schüttelte die Faust nach uns.
Gegen Ende des Krieges wurde Wolfi schwer verwundet und starb in einem Lazarett. Sein Tod ging mir sehr nahe und ich schwor in jugendlichem Ingrimm den Feinden Rache. Krieg ist für ein Kind, auch für einen Jugendlichen, zuallererst ein Wort. Erst die unmittelbare Begegnung mit den Waffen der Vernichtung und der Tod machen ihn zur Wirklichkeit.
Wie ich schon erwähnte, stand das Pöllnhaus am Rande des Beamtenviertels. Die Villen des Bankdirektors Leuschner, des Primarius Dr. Fronz, des Regierungsrates und Bezirksschulinspektors Pöschl standen in unmittelbarer Nachbarschaft.
Der Herr Primar Fronz war Nationalsozialist. Er leitete das Spital St. Johann i. Pg. und besaß damals in den dreißiger Jahren schon ein Auto. Es gab im Ort nicht mehr als fünf Personen, die ein Auto fuhren. Es war still auf den Straßen. Im Beamtenviertel gab es eine Filiale des Kaufhauses Lackner. Die Waren aus dem Stammhaus wurden mit einem Pferdefuhrwerk in die Filiale gebracht, ein Rappe zog den Wagen. Das Auto, mit dem der Primar abends wegfuhr, war mir vom Klang des Motors her wohlbekannt und von den Lichtern, die ihren vertrauten Weg über die Wände nahmen.
Der Sparkassendirektor war Mitglied des Deutschen Turnvereins, gehörte also zweifellos dem deutsch-nationalen Lager an. Der Bezirksschulinspektor war ein weit über die Grenzen des Bezirks hinaus bekannter Pädagoge und Autor. Seine Frau war exzentrisch. Meine Mutter arbeitete gelegentlich für sie im Haushalt. Sie hatte ein Herz für mich, gab sie doch meiner Mutter mitunter Erdbeeren für mich, und Bücher - die ersten meines Lebens, die mir gehörten. Es war "Heidi", das für mich noch zu schwer war, und ein Bilderbuch mit einer einfachen Geschichte: Zwei Kinder flogen in einer Seifenblase über die Wälder und Felder.
Die Ehe des Herrn Primarius war kinderlos. Eines Tages wurde dort ein Bub aufgenommen. Wir nannten ihn Primar Christl. Eigentlich hieß er Straubinger Christl. Es war Jahrzehnte später, daß ich die Zusammenhänge erfaßte. Sein Vater Christian Straubinger war ein zum Tode verurteilter Nationalsozialist. Das Urteil wurde nicht vollstreckt, da er einer der drei Abgeordneten zum Reichstag war, die Salzburg stellte. Das kinderlose Ehepaar nahm den Buben zeitweilig auf, vermutlich in den Ferien. Er durfte aber nicht mit uns spielen. Wohl aber durfte ich aber hie und wieder in sein Zimmer gehen um mit ihm zu spielen. Einmal zerbrachen wir im Spiel einen Lampenschirm. Frau Primar Fronz war aber eine liebe, gütige Frau. Es gab kaum eine Rüge. Einmal schenkte mir der Primar Christl ein Spielzeug, von dem ich nur träumen konnte, einen Spielzeug-Autobus. Es muß ein massives Spielzeug gewesen sein, denn es überstand einen Absturz aus dem 2. Stock der Villa des Herrn Primarius. Der Primar Christl konnte das große Auto natürlich nur geheim verschenken und so warf er es mir einfach zu. Es fiel in die Wiese, die das Pöllnhaus von drei Seiten umgab. Für einige Zeit konnte ich mich des Geschenks erfreuen. Dann kam die Sache doch irgendwie auf und ich mußte den Autobus zurückgeben.
Es waren wunderschöne Märztage. In der Früh, wenn der Schnee noch gefroren war, fuhren wir Buben mit unseren Schlitten über die großen Wiesen, die es damals noch mitten im Ort gab. Vom blauen Himmel herab dröhnten die Motoren silberner Flugzeuge. Ich war zehn Jahre alt und verstand nicht viel vom Geschehen, wohl aber war mir klar, daß man nunmehr gefahrlos ein Hakenkreuz zeichnen durfte. Ich hörte, wie ein etwa Vierzehnjähriger einen anderen Buben "schwarzes Schwein" nannte. Das war ein arges Schimpfwort. Die politische Bedeutung der schwarzen Farbe ging jedoch damals noch über mein Verständnis.
Im Frühjahr desselben Jahres führten uns die Lehrkräfte auf das Hubangerl, wo sich Volks- und Hauptschule versammelte. Der Direktor der Schule hielt eine Ansprache, die uns packte. Verstanden haben sie wohl nur die Hauptschüler, zu denen ich noch nicht gehörte.
Mein Vater bekam Arbeit und eines Tages sagte er: "Es gibt Arbeiter der Faust und Arbeiter der Stirne". Ein neues Selbstbewußtsein erfüllte ihn.
In das Jahr 1938 fällt auch meine erste "Begegnung" mit Hitler. Es muß wohl vor der Volksabstimmung über den vollzogenen Anschluß gewesen sein. Hitler fuhr mit dem Zug durch unser Land. Eine wogende Menschenmasse hatte sich auf dem Bahnhof meines Heimatortes versammelt. Vor mir stand ein Mann, der wie alle anderen zu schreien begann, als der Zug heranbrauste. Speichel floß aus seinem Mund. Alle wollten den Führer sehen. Auch ich strengte mich an. Leider richtete ich meine Aufmerksamkeit in die falsche Richtung. Ich hielt den Mann, der aus der Lokomotive herausschaute, für Adolf Hitler. Ich war der irrigen Meinung, daß der erste Mann im Zug wohl der wichtigste sein müsse.
Mit kaum elf Jahren kam ich in die Nationalpolitische Erziehungsanstalt (kurz NAPOLA genannt) Breitensee. Es war dies eine von etwa 40 solcher Anstalten, die nach 1938 in der Ostmark gegründet wurden.
Die Napola (bzw. NPEA) darf nicht mit der Adolf Hitler Schule verwechselt werden. In beiden Eliteschulen des Dritten Reiches sollten natürlich begeisterte und fähige Nationalsozialisten herangezogen werden. Während jedoch aus den Adolf Hitler Schulen - Vorschulen der NS Ordensburgen - die künftigen Parteifunktionäre hervorgehen sollten, stand es den Absolventen der Napola frei, weiterzustudieren oder einen Beruf zu ergreifen. An welcher Stelle sie auch in Zukunft stehen sollten, sie waren dazu bestimmt, Säulen im System des Nationalsozialismus zu sein. Waren die Zöglinge der Adolf Hitler Schulen künftige Stützen des Systems innerhalb der Partei, so sollten die Jungmannen der Napolas Säulen des Systems im zivilen Bereich sein.
Ich war zunächst stolz darauf ausgewählt worden zu sein. Ich erinnere mich noch daran, daß Männer in brauner Uniform dem Unterricht in unserer Volksschulklasse beiwohnten. Dies war der erste Schritt. Es folgte eine einwöchige Aufnahmeprüfung in Wien. Ich war stolz, daß ich sie bestand. Es folgte eine große Ernüchterung. Da lagen wir Buben aus allen Gauen der Ostmark in einem Schlafsaal vereint und litten an Heimweh. Benno Falterbauer aus Mayrhofen im "Zillachtol" brach eines Abends mit der Ehrlichkeit und Verzweiflung des Kindes in lautes Schluchzen aus und alsbald weinten wir alle in unsere Kissen. Das Heimweh quälte uns alle, die wir aus der Wärme des elterlichen Heims in die harte spartanische Welt der Eliteschule gekommen waren. Die Erziehung vom Leibe her nahm eine zentrale Stelle ein. Ich erinnere mich an einen Marsch, in dem auch wir neuen Jungmannen schon teilnahmen. Er führte durch die Straßen Wiens und wir marschierten mit preußischer Präzision. Dabei sangen wir ein Lied, das ich bis heute fest im Gedächtnis habe.
[Fehlt, fand sich aber im Internet. Siehe Anhang]
Kleiner Teil eines mächtigen Ganzen zu sein, hier wurde es für mich erstmals Erlebnis. Die Vereinigung in Lied und Schritt ist ein Urerlebnis nationalsozialistischer Jugend. Die Jungmannen eines Jahrgangs bildeten einen Zug und marschierten in einer Kolonne. So folgten Zug auf Zug, alle marschierten im gleichen Schritt und sagen wie aus einer machtvollen Kehle.
Wir waren natürlich richtige Buben. Ich erinnere mich, daß wir im Herbst Kastanien durch den langen breiten Korridor der Anstalt schossen. Die hüpften und sprangen auf dem gefliesten Boden, daß es eine Freude war. Ein schriller Pfiff und der Befehl anzutreten setzte unserem Treiben ein Ende. Der größte Teil des Zuges war wohl beteiligt. Antreten mußten wir alle. Es sollten sich diejenigen melden, die geschossen hatten. Ich weiß heute noch, daß ich mit mir rang. Sollte ich mich melden oder nicht. Ich meldete mich nicht. Keiner meldete sich, und wir wurden alle bestraft. Ich weiß nicht, wie unsere Führer die Sache beurteilten. Feigheit stand gegen Zusammenhalten, und Kameradschaft war ein hochrangiger Wert.
Feigheit, da fällt mir ein, daß zum Krampustag die Jungmänner eines höheren Jahrgangs dazu ausersehen waren, uns als Krampusse mit Ruten zu schlagen. Wir hatten eine Art Heimabend. Wir wußten, daß die Krampusse kommen würden. Eine Mauer des Saales war nicht gleichmäßig nach oben gemauert. An einer Stelle gab es einen ziemlich breiten Sims, so daß zwischen dem Kasten und der Mauer ein Spalt war, der mir ein Versteck bot. Ich war klein und wendig. Dieses Versteck hatte ich schon ausgekundschaftet, und als die Krampusse nahten, verschwand ich. Wir wurden namentlich aufgerufen. Als mein Name erklang, rührte sich nichts. Stille. Da kroch ich aus meinem Versteck hervor. Es wäre mir doch feige erschienen zu verbleiben. Als ich auf dem Kasten erschien, brach Gelächter aus und ich kam, was die Schläge betrifft, mit ziemlich heiler Haut davon.
In Erinnerung ist mir auch die Klassenbücherei geblieben. Es war die erste Bücherei überhaupt, die ich sah. Bücher in einer ganzen Reihe. Sie enthielt nichts Politisches. Ich erinnere mich an die Bücher: Jules Verne, Reise zum Mond, Steuben, Tecumseh der Berglöwe, und an eine Sammlung alpenländischer Sagen. Gerade dieses Buch stellte eine Verbindung zur engeren Heimat dar, enthielt sie doch auch die Sage vom Lindwurm auf dem Tappenkar.
Das erste Jahr der Napola Breitensee schloß mit einer einwöchigen Fahrt durch die Wachau. Es waren wunderschöne Tage und ich sah abends die ersten Glühwürmchen meines Lebens.
Wir alle sehnten uns nach Hause und man brachte uns vor Weihnachten und vor den großen Ferien zum Westbahnhof. Unsere Gruppe wurde kleiner und kleiner, je mehr wir uns den Bergen näherten. Wie machtvoll wirkten sie auf mich, wenn ich nach der Fahrt mit dem Personenzug im Heimatort ausstieg, und wie traut war das eine Zimmer, wie traut der Geruch und wie heimelig die Abende. Der Vater war eingerückt. Eines Tages stand da auch ein Radioapparat, ein Philips mit wundervollem Klang und einer Skala, die die seltsamsten Städtenamen aufwies: Warsawa, Bratislawa... Zu kurz war der Aufenthalt. Es hieß wieder zurückkehren in die harte Welt, der Erziehung vom Leibe her ausgerichtet nach militärischen Tugenden. Kameradschaft, ja die gab es, Liebe jedoch nicht.
Unser Geschichtelehrer in der Napola, ein Hühne von Gestalt mit wuchtigem Kopf und breitem Nacken, trug den für einen Nationalsozialisten nicht gerade schmeichelhaften Spitznamen John Bull. Von ihm hörten wir, daß die Germanen den Strohtod verachteten. Sie wollten, so erzählte er, nicht auf dem Strohlager des heimatlichen Hauses sterben, sondern im Kampf. "Lever ded as Slav" hörte ich von ihm, und verstand es erst nachdem er es übersetzt hatte. Lieber tot als Sklave.
In der Napola lernte ich Schach zu spielen. Die zerlesenen alten Bände der Klassenbücherei erweckten meine Lust am Lesen, mein Interesse an den Indianern. Später hießen die Autoren Dolezal, Fenimore Cooper und Karl May, und an die Stelle Tecumsehs trat Winnetou. Ich beschäftigte mich Jahrzehnte später noch gelegentlich mit dem roten Mann. Ich begann sein Schicksal mit anderen Augen zu sehen und seine Weltsicht ging mir in voller Tiefe auf. (Whorff [?]) Aber das wäre nicht möglich gewesen ohne Hinwendung zum Buch, wofür der erste - nein, eigentlich der dritte Grundstein in der Napola gelegt wurde. Die ersten verdanke ich Fräulein Wintersteller, meiner Lehrerin in der ersten Klasse Volksschule, und meiner Mutter, die mir Münchhausen vorgelesen hatte. Wahrscheinlich wäre ich auch ohne diese Anstalt zum Leser geworden, aber damals war das Buch eine andere Welt, in die ich flüchtete. Heute gehe ich gerne dorthin, auch wenn ich im allgemeinen die Fiktion [als Buchgattung] hinter mir gelassen habe.
Gauleiter Scheel, so sagte man, habe viel für das Volksbrauchtum übrig. So wurde im Lande Salzburg ein Film darüber gedreht. Die Schuljugend der Hauptschule St. Johann wirkte da mit. Buben und Mädchen spielten und tanzten auf dem Hubangerl. Es wurde auch eine Szene gedreht, in der zwei Buben Flöte spielen. Der eine sagte zum anderen: "Dös is ja a C und nit an A." Während sie die Sache besprachen, fraß eine Ziege das Notenblatt. Nun wurde in St. Johann nur der Film gedreht. Der Ton wurde in einem Wiener Studio dazugegeben. Ich war in Wien, das wußte Windhofer Georg, der Windhofer Schorsch, der schon damals zu den maßgeblichen Leuten gehörte, wenn es ums Brauchtum ging. Ich mußte also jenen Satz sprechen. Dafür bekam ich 40 DM. Dieses Geld schickte ich meiner Mutter mit der Bitte, sie möge mir dafür ein gutes Luftdruckgewehr kaufen. Das Geld hätte dazu leicht gereicht. Sie kaufte aber das billigste das es gab. Ich habe ihr das jahrelang nicht ganz verziehen. Zum Indianerspielen benutzte ich es nicht. Da hatte ich ja meine selbstgebastelte Silberbüchse.
Damals war es noch sehr still auf den Straßen. Diese Stille gab es auch noch in den Kriegsjahren. Wenn ich das Luftdruckgewehr in einem Winkel von 45 Grad zum Andexer Neubau richtete und abdrückte, hörte ich in 200 Meter Entfernung den Aufschlag des kleinen Geschosses auf dem Blechdach.
Als ich im zweiten Jahr [in der Napola] an der, damals allgemein viel schwerer verlaufenden Scharlach erkrankte, konnte ich nach zweimonatiger Abwesenheit von der Schule [nicht] mehr dem Unterricht folgen. Meine Mutter nahm mich aus der Napola heraus und ich besuchte die Hauptschule.
Aus der Hauptschulzeit habe ich wenige politische Erinnerungen. Sicher waren unsere Lehrbücher mit Ausnahme des Englischlehrwerks "New Guide" von nationalsozialistischem Gedankengut geprägt. In der Eingangshalle der Schule waren an den hohen Seitenwänden Fresken angebracht. Auf der linken Seite sah man, wenn man die Schule betrat, eine Szene aus Wilhelm Tell, "Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern", auf der rechten Seite waren die Recken der Nibelungensage abgebildet. An der schmäleren Wandseite gegenüber der schweren Eingangstür war das Ergebnis der Volksabstimmung vom 10. April 1938 festgehalten. An der Gestaltung dieser Eingangshalle war sicher unser national eingestellter hochverehrter Herr Direktor maßgeblich beteiligt. Unvergessen sind mir seine Geschichtsstunden geblieben. Nie mehr wurde uns später Geschichte so plastisch und begeisternd vorgetragen. Besonders die Französische Revolution und die napoleonische Zeit hatten es ihm angetan. Sätze wie "Das ist die Sonne von Austerlitz" sind mir in Erinnerung geblieben. Ich weiß nicht, ob Napoleon das wirklich nach der Schlacht von Austerlitz gesagt hat, als die Sonne nach seinem Sieg durch den Nebel brach, oder ob sich das unser Direktor ausgedacht hatte. Er war ein großes rhetorisches Talent, das sich auch zu solchen Sätzen hinreißen ließ. Später erzählte er uns, daß sich der Führer allein in den Invalidendom begab, um stumme Zwiesprache mit Napoleon zu halten, und so vollzog er eine geschichtliche Gleichung. Als der Krieg mit Rußland ausbrach, erklärte er uns die Sache mit dem Präventivkrieg. Ganze Wälder seien voll mit unbemannten russischen Tanks gewesen. Die Russen seien bereit gewesen gegen Deutschland loszuschlagen, aber der Führer sei ihnen zuvorgekommen. Auch die Tötung unwerten Lebens rechtfertigte er, indem er uns erklärte, die Zahl der Erbkranken hätte in Deutschland ungeheuer zugenommen. Dies erzählte er uns jedoch nicht im Geschichtsunterricht, sondern im nationalpolitischen Unterricht, der jeden Montag in der ersten Stunde stattfand. In diesen Unterricht floß nicht nur viel Rassenkundliches ein, sondern er benutzte ihn auch für Lebenskundeunterricht, der sexuelle Aufklärung mit einschloß.
Abgesehen von dem, was unzweifelhaft in den Lehrbüchern an nationalsozialistischer Ideologie an uns herangetragen wurde und was sozusagen zum nationalsozialistisch gefärbten Alltag gehörte, scheint die Politik keine allzugroße Rolle gespielt zu haben. Vielleicht lag es daran, daß in den Jahren des Krieges die männlichen Lehrkräfte nach und nach einrückten. Unsere Mathematiklehrerin bemerkte einmal so nebenbei: "Wenn die Frauen Politik machen würden, gäbe es weniger Kriege." Sie erwähnte den Mord an Leo Trotzki.
Der Biologielehrer erwähnte eine Fotographie aus der deutschen Kolonialzeit. Ein hochgewachsener Deutscher neben seiner Frau, einer kleinen Negerin. Er gab dies als negatives Beispiel für Rassenmischung.
Im nationalsozialistischen Unterricht erklärte der Direktor die Mendelschen Erbgesetze, und machte die Sache am Beispiel der Kreuzung von Erbsen mit weißen und roten Blüten anschaulich. Die Implikation war natürlich, daß rassisch schlechte Erbanlagen in späteren Generationen wieder mit voller Kraft durchzuschlagen vermochten.
Der Führer Adolf Hitler war der Gegenstand unserer Verehrung und Hingabe, aber ich gestehe, daß ich Winnetou zur gleichen Zeit ebenso heiß geliebt habe. Und deutlicher als der HJ-Dolch, auf dem, wenn ich mich recht erinnere, "Blut und Ehre" stand, ist mir meine Silberbüchse in Erinnerung geblieben.
Ich hatte sie mir selbst gebastelt und mit Schuhnägeln beschlagen. Ich trug sie, wenn wir Indianer spielten, in einer Zeit, da die deutschen Armeen in den gewaltigen Raum des bolschewistischen Rußland vorstießen.
Gegensätze dieser Art gab es mehrere. Es war wohl darin begründet, daß wir Kinder mit kindlichen Seelen blieben, daß uns die nationalsozialistische Erziehung im Alter von zwölf Jahren nur zeitweise berührte. Das Gift drang sozusagen langsam in die Seelen und wurde in der Pubertät voll wirksam. Wir empfanden die Diktatur nicht. Für uns war der Nationalsozialismus selbstverständliche Wirklichkeit.
Zu dieser neuen Wirklichkeit gehörte auch der Vorrang der sportlichen Leistung, der gleiche Rang in der Kolonne. Der Sohn des Apothekers und Rechtsanwaltes marschierte in der Kolonne neben jenem des gewöhnlichen Arbeiters. Was zählte war, wie schnell man lief, wie weit man sprang. Worauf es ankam, das war Mut und Kameradschaftlichkeit. Der Dünkel und die Überheblichkeit gewisser Kinder, wie zur Zeit des Ständestaates üblich, wurde hinweggefegt durch die neue Zeit. Es gab sie nicht mehr so offenkundig. Sie waren ins Private gewichen.
Ich erinnere mich nicht, daß unsere Lehrkräfte uns antisemitisch beeinflußt hätten. Außer dem üblichen "Heil Hitler" zu Beginn der Stunde und den üblichen Schulfeiern mit Flaggenhissen, herrschte keine ausgesprochen politische Atmosphäre. Freilich, der Führer war allgegenwärtig. Sein Bild hing in jeder Klasse. Es hatte längst das Kruzifix ersetzt. Sprüche aus "Mein Kampf" waren im Direktionszimmer angebracht.
Der Rassegedanke wurde gewiß in den Lehrbüchern dargestellt. Wir sahen den Film "Jud Süß". Was an vagen antisemitischen Vorstellungen und Gefühlen in der Schule entstanden war, hier bekam es ein faßbares Ziel, hier bekam es mit einem Male persönliche Gestalt, und somit wußten wir nun, wie ein Jude ausschaut und erkannten: Der Jude ist schlecht. Er verdient unseren Haß. Ich erinnere mich genau an diesen Film, an einzelne Szenen, wenngleich ich sage, daß mir der sexuelle Gehalt unverständlich blieb.
In unserem Heimatort mag es mehrere Juden gegeben haben. Ich weiß nur einen zu nennen, den "Jud Schneider". Er trug seinen Namen zurecht, führte er doch ein Textilgeschäft. Als ich schon in die Hauptschule ging, sagte meine Mutter einmal zu mir: "Ich weiß nicht, was sie (die Nationalsozialisten) gegen die Juden haben. Der Jud Schneider war der einzige, der mir in der schlechten Zeit Kleidung verkaufte, die ich auf Raten abzahlen konnte."
Im Musikunterricht wurde damals viel gesungen. Unsere Musiklehrerin pflegte in erster Linie das Volkslied. Wie sangen jene Lieder, die Cäsar Bresgen gesammelt hatte, und Lieder aus dem Zupfgeigenhansl wie "Wohlan die Zeit ist kommen". Unter den gelernten Liedern war auch ein Wienerlied, dessen Text ich heute noch sagen könnte. Von all den Liedern war nur eines ausgesprochen nationalsozialistischen Gepräges, ein Ostlied. Ich gebe hier den Text wieder.
[fehlt]
Ich möchte aber betonen, daß man das politische Lied im großen und ganzen der Hitlerjugend überließ, wenigstens an unserer Schule.
In St. Johann i. Pg. gab es ein großes staatliches Lager für Kriegsgefangene (STALAG). Ich kann mich noch gut erinnern, wie die ersten Kriegsgefangenen eintrafen. Im Ort wurde erzählt, die Russen hätten sich vom Waggon auf die Straße gestürzt um aus Pfützen Wasser zu trinken. Wir gingen heimlich zum Lager "Russn schaun". Wir sahen seltsame Gestalten langsam herumwandern. Sie suchten Eßbares im Gras.
Vom Totengräber des Ortes wurde glaubhaft berichtet, daß er tote Russen mit Kalk übergießen mußte, ehe er sie vergrub. Als sich einer noch bewegte, weil das letzte Lebensfünklein noch nicht erloschen war, versetzte er ihm einen Schlag mit der Schaufel.
Die Franzosen waren nicht im Lager eingesperrt. Im ehemaligen Werkraum der Hauptschule hatte man sie einquartiert. Sie wurden nicht bewacht. Einer, sehr klein von Gestalt, reinigte die Klassenzimmer. Wir hatten Kontakt zu ihm. In einem Kalender, der wahrscheinlich für deutsche Soldaten in Frankreich gedacht war, fand ich ein kleines französisches Wörterverzeichnis. Ich bastelte daraus den Satz "Du bist ein kleiner Franzose" und schrieb ihn nach der letzten Stunde an die Tafel, die er zu löschen hatte. Zwischen uns herrschte keine Feindseligkeit, obwohl der kleine Franzose sagte "Wir werden den Krieg gewinnen", worauf wir entgegneten "Nein, wir werden siegen". Ein Franzose flüchtete, und der kleine Gefangene sah seine Heimat nie mehr wieder. Er starb - es mag wohl 1943 gewesen sein - in St. Johann i. Pg.
Die Franzosen in der Schule, oder wenigstens einige von ihnen, beherrschten die Fingerfertigkeit aus einem gewöhnlichen Ledergürtel einen geflochtenen zu machen. Man mußte ihnen ein paar Zigaretten geben und natürlich einen Ledergürtel besitzen. Wie gerne hätte ich einen besessen! Der wilde Westen hatte es mir angetan und ich hätte gerne einen bei unseren Indianerspielen getragen. Aber ich besaß eben keinen, und so blieb der geflochtene Ledergürtel einer jener kleinen und doch unerfüllbaren Jugendwünsche, die wohl jeder Mensch als Kind träumt.
Die Tochter eines Bauern aus St. Johann gab an, von einem Kriegsgefangenen vergewaltigt worden zu sein. Vielleicht war sie schwanger geworden, jedenfalls äußerte meine Mutter gewisse Zweifel an der Wahrheit ihrer Aussage. Ich kann die Sache nicht beurteilen, wohl aber weiß ich, daß jener Unglückliche zum Tod durch den Strang verurteilt wurde. Das geschah sicher, um die Kriegsgefangenen und Deutschen abzuschrecken, sexuelle Beziehungen zu pflegen. Ich kenne noch eine Frau, die damals schwanger wurde. Es hieß, der Vater sei ein Franzose. Sie spielte jedenfalls die Einfältige und gab an, mit einem deutschen Soldaten Verkehr gehabt zu haben, den sie nicht kenne. So blieb sie ungeschoren. Aber vielleicht war sie damals Zeugin, als jenes Urteil vollstreckt wurde. Wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, geschah es im Hofe der Kaserne. Die Leute drängten sich. Ich kann mich nicht erinnern, den Mann auf dem Galgen hängen gesehen zu haben. Vielleicht ließ mich meine Mutter auch nicht gehen. Die Erinnerungen verschwimmen hier ein bißchen. Im Kasernenhof wurden auch Veranstaltungen abgehalten, die sozialen Zwecken dienten, wohl dem Winterhilfswerk. Ich erinnere mich an die Versteigerung eines Exner-Gemäldes. Ich glaube mich erinnern zu können, das jenes große Bild in den Besitz des Primarius Dr. Fronz kam. Er war jedenfalls bei solchen Gelegenheiten in schwarzer SS-Uniform zu sehen.
Wie ich schon erwähnte, lag das Pöllnhaus, in dem wir wohnten, im Beamtenviertel. Das benachbarte Haus hieß im Volksmund "Beamtenhaus". Es verdiente diesen Namen, lebten doch Gemeindebeamte, Finanzbeamte und solche der Bezirkshauptmannschaft darin. Bei einer Familie (Mahringer) wohnte ein Mann, der keine geregelte Arbeitszeit zu haben schien. Man konnte ihm zu jeder beliebigen Stunde des Tages begegnen. Einmal, als Frau Mahringer mit mir sprach und er an uns vorbeiging, sagte sie "Das ist ein Geheimer". Ich hatte diese Bezeichnung auch schon von meiner Mutter gehört, und erhielt es also nun sozusagen aus erster Quelle bestätigt. Es gab ja "Feinde" im Reich, hieß es doch auch auf Plakaten "Feind hört mit". Damals war ich elf oder zwölf Jahre alt und wußte nichts von der Existenz der Geheimen Staatspolizei. Heute weiß ich, daß jener Mann ein Gestapobeamter war. Aber er sollte nochmals meinen Weg kreuzen. Das war einige Jahre später, als ich mitunter mit Wetti stritt und das fürchterliche Wort im Ohr hatte "Hitler ist ein Verbrecher".
In unserem Haus wohnte ein Ehepaar im zweiten Stock. Die Frau Wind war etwas derb im Benehmen und ohne jegliches Zartgefühl. Sie hatte eine Tochter meines Alters gehabt. wir waren Spielgefährten gewesen, bis sie an einer Blutvergiftung starb. Meine Mutter hat es später wiederholt erwähnt, daß Kathi Tag und Nacht geschrien habe, bis sie die Mutter schließlich mit den Worten über die Schulter warf "Nun muß ich mit diesem Bock zum Doktor gehen". Es war zu spät, das Kind starb. Das war meine erste Begegnung mit dem Tod. Mit dem Vokabular des Erwachsenen sage ich heute, daß die Ehe zerrüttet war. Ich sah Herrn Wind nur sehr selten. Er betrieb ein kleines Betonwerk und schlief selten zu Hause. Eines Tages hieß es, "Der Herr Wind ist verhaftet worden". Später wurde erzählt, daß er die ganze Nacht aus dem Fenster des Gefängnisses gerufen habe, man möge ihm eine Feile zureichen. Er bettelte den Gefängniswärter um eine Feile an. Ein Gedanke, den ich damals hatte, ist mir noch in Erinnerung: "Niemand hätte ihn feilen gehört". Der Regen war die ganze Nacht heruntergerauscht. Es hieß, er hätte nach dem Krieg, dessen Niederlage sich für Erwachsene schon abzeichnete, Bürgermeister werden wollen, und er sei Kommunist. Später wurde erzählt, es habe ihn in Salzburg jemand mit vollkommen zerschlagenen Gesicht gesehen und kaum wiedererkannt. Herr Wind tauchte nie mehr auf. Seine Frau ließ man ungeschoren. Die Zerrüttung der Ehe war jetzt wohl die Rettung der Frau. So war unser Pöllnhaus ein Abbild der Verhältnisse: Es gab fanatische Nationalsozialisten, die schon als Illegale der Partei angehört hatten, es gab einen Menschen im Widerstand, es gab einen fanatischen Hitlerjungen und eine große Zahl von Mitläufern.
In der Hitlerjugend trat die Beeinflussung im Geiste des Nationalsozialismus deutlicher zutage. Es gab Heimabende und Aufmärsche, Appelle und Fahrten. Ich erinnere mich, daß fast jeden Mittwoch unser Fähnleinführer beim Lichte einer Kerze aus einem kleinen Heftchen vorlas. Die Führer wechselten im Laufe der Zeit, wir hatten insgesamt vier oder fünf. Modelhart, Paulweber, Hilzensauer, Kerschbaumer. In den Heimabenden spielten die Germanen eine große Rolle, besonders Widukind. Die Kerze war gewiß kein Zufall. Das Feuer, die Flamme waren wohl Symbole der Reinheit und Läuterung. Sie vermochten mehr als Worte uns bei abendlichen Feiern in den Bann zu schlagen.
Eines Tages hieß es, Jungbannführer Felser sei gefallen. Es fand auf der Feste Hohenwerfen eine Heldengedenkfeier statt. Diese Feier war abends angesetzt. Man drückte uns Fackeln in die Hand. Unser Marsch zur Festung war eindrucksvoll. An das genaue Programm erinnere ich mich nicht mehr, auch nicht daran, wo wir schliefen. Es war eine eindrucksvolle, zu Herzen gehende Feier, mit einer Ansprache und Liedern... Flamme empor, Flamme empor!
Eines Sonntags war wieder Appell. Wir mußten dazu erscheinen. Allerdings war die Anwesenheitspflicht nicht rigoros erzwungen. Ich erinnere mich, daß ich vor besonderen Appellen meine Jungschar verständigen mußte. Das waren elf Buben, die außerhalb des Ortes wohnten. Es war gar nicht so leicht, sie alle zu erreichen und es nützte auch nicht viel. Es fehlten nämlich immer dieselben Pimpfe, meist Bauernbuben. Sie kamen nie, was aber keinerlei üble Folgen für sie hatte.
Eines Sonntags war wieder Appell. Wir marschierten erst durch den Ort und schlugen uns dann durch steiles, unwegsames Gelände. Wir kamen zu einem Schwarzbeerschlag. Mein Freund Fritz und ich konnten nicht widerstehen. Wir blieben zurück und aßen von der blauen fruchtigen Pracht. Was wir taten glich, wenngleich auf unterster Ebene, einer Art Fahnenflucht. Wir gingen nämlich ohne uns abzumelden heim. In der folgenden Woche wurden wir zum Fähnleinführer gerufen. Er nahm unsere lahme Entschuldigung, wir hätten den Anschluß verloren, mit einem Augenzwinkern an. Er hatte offensichtlich Verständnis für unsere Lust auf Schwarzbeeren, was ich ihm heute noch hoch anrechne.
Höhepunkte im Ablauf des Hitlerjugend-Jahres waren gewiß die Sportkämpfe: Bannwettbewerb und Gebietswettkämpfe. Ich weiß die Nummer unseres Banners nicht mehr, wohl aber jene des "Gebietes" Salzburg. Wir waren das Gebiet 32. Mit schmetternden Fanfarenklängen und beim Wirbel der Trommel marschierten wir durch den Ort. Dann maßen wir die Kräfte. Im Pongau, unserem Bann, dominierten die Internatsschüler von Kreuzberg in der Leichtathletik. Im Schwimmen schlugen wir sie, weil wir über ein Schwimmbad verfügten und sehr geübte Schwimmer waren. Ich war mehrmals Bannmeister im Brustschwimmen. Wir nahmen mit Begeisterung an diesen Veranstaltungen teil. Wir wußten nicht um die politischen Hintergründe, wußten nicht, daß diese Sportwettkämpfe Mittel zum Zweck waren eine Jugend heranzubilden, die bestimmt war dereinst die Welt zu beherrschen. Die älteren Generationen hatten auch andere politische Verhältnisse gekannt, waren vielleicht erst spät zum Nationalsozialismus gestoßen, wir hingegen sollten geprägt werden von jungen Jahren an und unaufhörlich. "Heute gehört uns Deutschland", das konnten auch die Alten sagen, aber "Und morgen die ganze Welt", das war uns auf den Leib geschrieben, der jungen Generation des Herrenvolkes der Deutschen.
Die Gebietssportkämpfe waren begeisternde Ereignisse für mich, besonders das erste. Es dürfte 1942 oder 1943 gewesen sein. Der Marsch durch die Stadt [Salzburg] bei strahlendem Wetter. Feiern auf der Festung Hohensalzburg. Als wir von der Festung gingen, sahen wir auf dem Kapitelplatz ein großes "Schachbrett". Man hatte auf dem Kapitelplatz die schwarzen und weißen Felder des Schachbretts gemalt und ein Schachspiel war im Gange, bei dem lebende Menschen in mittelalterlichen Gewändern die Schachfiguren bildeten. Irgend etwas ging schief. Vermutlich hätten auch alle 32 menschlichen Schachfiguren das Spiel gut beherrschen müssen und die Züge richtig durchzuführen. Erst heute wird mir bewußt, daß dieses Spiel mit lebenden Schachfiguren symbolhaft ist. Der Mensch tritt ohne eigenen Willen auf, als Mittel im Kampf blind dem Befehl gehorchend, der von irgendwo vermittelt wird und zu Zügen führt, deren verflochtenen Sinn im Kampf man nicht versteht. Symbolhaft auch, weil ein Geschehen, das den Menschen derart seiner Würde beraubt, letzten Endes zum Scheitern verurteilt ist.
Die letzten Gebietssportfeste fanden wohl im Sommer 1944 statt. Sie waren nicht mehr so glanzvoll wie jene vorher. Die Verteilung der Urkunden fand im [???]-Saal der Residenz statt und Gebietsführer Stöger drückte sie den Siegern in die Hand. Es war eine ziemlich formale Angelegenheit ohne Glanz und Begeisterung, wenngleich ich damals Dreifach-Gebietsmeister in verschiedenen Schwimmdisziplinen war.
In besonders guter Erinnerung habe ich die Kriegsweihnachten. In unserem Haus wohnte auch eine Frau aus dem Reich, Frau Seidl. Ihr Mann war schon 1933 Parteimitglied gewesen. Niemand im Haus kannte ihn genauer, da er Soldat war und nur einmal im Jahr auf Urlaub fuhr. Im Kriege gebar Frau Seidl ein Mädchen. Es war ein liebes Kind, Ursula. Eines Tages ging Frau Seidl in Schwarz. Ihr Mann war gefallen. Zu Weihnachten fand sich ein Teil der Hausgemeinschaft bei Frau Seidl ein. Das Weihnachtsfest hatte keinen religiösen Gehalt für uns. Es war ein Fest der Verbundenheit zwischen Heimat und Front. Aus dem Radio ertönte das Lied "Hohe Nacht der klaren Sterne", in dem sich die Stelle fand "Heut wird sich die Welt erneuern wie ein neugeboren Kind", was dem Lied einen pseudoreligiösen Beigeschmack gab. Während jener Kriegsweihnachten sagte Frau Seidl: "Wenn der Krieg aus ist, kaufe ich mir einen ganzen Topf voll Würstel."
In unserer Einzimmerwohnung hingen an der Fensterwand zwei Bilder Adolf Hitlers. Als eines Tages die Mehlrationen herabgesetzt wurden, nahm meine Mutter das größere der Bilder mit dem Worten von der Wand: "So, Bürscherl, jetzt kommst herunter!" Ich war entrüstet und traurig zugleich. Ich bettelte, man möge das kleinere Bild unter allen Umständen an der Wand hängen lassen. Während der ganzen Schulzeit und auch in den Heimabenden des Jungvolkes und der Hitlerjugend wurde uns eingehämmert, daß Adolf Hitler der größte aller Deutschen sei. Er habe Deutschland aus der Not und Zerrissenheit geführt und alle Deutschen in einem einzigen Reich vereint. "Ein Volk, ein Reich, ein Führer."
Meine Mutter hatte ein Patenkind (Barbara Aicher), kurz Wetti genannt. Wetti war als "Annehmkind" auf den Unterviehhof zu Wagrein gekommen, jenen Hof, auf dem meine Mutter als Tochter des Bauern heranwuchs. Wetti war nur ein paar Jahre jünger. Meine Mutter verließ den Hof nachdem ihre Mutter gestorben war und der Vater neuerdings heiratete. Sie ging in den Dienst, d.h. sie wurde Hausmagd. Das Erbteil zahlte man ihr aus, als im Land Inflation herrschte, sie konnte sich um das Geld ein Paar Halbschuhe kaufen. Als meine Mutter noch auf dem elterlichen Bauernhof arbeitete, kam Wetti als Annehmkind dorthin. Zwischen den beiden herrschte immer ein schwesterliches Verhältnis. Wetti wurde das Patenkind meiner Mutter, die ihr allerdings bei der Firmung nicht mehr bieten konnte als eine Suppe mit einem Paar Würstel.
Wetti besuchte uns von Zeit zu Zeit und übernachtete manchmal in unserem Zimmer. Ich, der junge fanatische Hitlerjunge, und die etwa dreißigjährige Frau stritten manchmal. Ich glaubte an den Endsieg unseres Führers Adolf Hitler. Sie war kritisch und einmal entfuhr ihr im ungleichen politischen Streitgespräch der Satz: "Hitler ist ein Verbrecher." Das war für mich wie ein Keulenschlag. In den folgenden Tagen spielte sich in mir ein Kampf ab. "Es ist deine Pflicht sie anzuzeigen", sagte eine Stimme. "Sie ist doch die Wetti. Meine Mutter hat sie gerne und sie mag meine Mutter gut leiden. Auch zu mir war sie immer nett", sagte die andere Stimme.
Ohne das sie es gewußt hätte, war damals Wetti in großer Gefahr der physischen Vernichtung. Ich hätte den Weg gewußt, den ich zu gehen gehabt hätte. Ich darf es mir nicht als Verdienst anrechnen, daß ich ihn nicht ging. Die Bande der Familie und der Bekanntschaft von klein auf waren größer. Es war dies der einzige Augenblick in der Zeit des NS, da ich nahe daran war, Schuld auf mich zu laden.
Als Kinder führten wir den Spruch im Munde: "Sei still, sonst kommst nach Dachau." Allerdings hatten wir nur schattenhafte Vorstellungen, was das sein könnte. Das Wort Konzentrationslager war uns unbekannt.
Wir wurden in der Schule im Geiste des Nationalsozialismus erzogen. Das bedeutete eine Verurteilung des überwundenen "Systems" (Ständestaat), die der Zeit den Namen geben sollte: "Systemzeit". Adolf Hitler unser Führer war groß. Dollfuß und Schuschnigg waren schlecht. Ein Kind, und auch ein Jugendlicher, ist nicht für Mitteltöne ansprechbar sondern für Gegensätze. Es braucht Helden und Schurken. Von den beiden Politikern war uns einer nur dem Namen nach bekannt - Dollfuß. Dunkel erinnere ich mich an seine Ermordung. Irgendwo an der Salzach, wo ein großes unverbautes Feld war, hielt man eine Feier. Schuschnigg besuchte einmal meinen Heimatort, und wir Schulkinder säumten die Straße, die vom Bahnhof in den Ort führte, wobei wir Fähnchen schwangen. Nun war in unserer Klasse ein Bub, der bei seiner Großmutter und seiner Tante großgezogen wurde (Rudolf Plöbst). Er erzählte mir, daß bei ihn zu Hause kein Führerbild hing, sondern zwei Bildnisse jener zwei Politiker aus der Systemzeit. Wir waren empört und beschlossen die Sache unserer Geschichtslehrerin (Hildegard Fürbas) zu melden. Sie war, wie ich heute sagen kann, sehr vernünftig und weise und redete uns ein, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Es seien eben alte Leute, und die verstünden die neue Zeit nicht. Wir waren im Grunde etwas enttäuscht, ließen die Sache aber natürlich dann auf sich beruhen.
Auf dem Turnerfeld sahen wir die Motorjugend üben. Nicht nur, daß sie mit ziemlich schweren Maschinen fuhren, sie übten auch beinahe akrobatische Stücke aus.
Im Winter bauten wir einmal, als der Schnee besonders pappig war, einen großen Tank. Der Krieg hatte Einzug in unsere Spiele gehalten.
Der Religionsunterricht war freiwillig. Man mußte sich dazu anmelden, und er wurde nicht im Klassenraum sondern in der Annakapelle erteilt. Ich meldete mich, im Schuljahr 1942/43, obwohl ich keineswegs sonntags in die Kirche ging. Da saß eine kleine Schar Buben und Mädchen um den Herrn Kooperator. Über den Inhalt des Unterrichts weiß ich im einzelnen nichts mehr, aber an das Motiv meiner Meldung erinnere ich mich noch genau. Ich wollte wissen, was uns der Herr in Schwarz erzählte. "Wir sind des Geiers schwarzer Haufen, hei jo hoho..." Dieses antiklerikale Lied hatten wir gelernt. Darin heißt es "Setzt auf Klosters Dach den roten Hahn." Ich empfand damals die Kirche als Gegner und ich wollte wissen, was der Gegner zu sagen hatte. Als Kind hatte ich Sonntags in die Kirche gehen müssen. Auch der Besuch der Maiandacht im Frühjahr war keine Seltenheit gewesen. In unserer kleinen, aus einem Zimmer bestehenden Wohnung hing über den elterlichen Betten ein großes Marienbild. Auf der Fensterwand war ein Bild des Führers. Hier wurden auf engstem Raum weltanschauliche Gegensätze sichtbar, die ich wohl verspürte, damals aber nicht hätte formulieren können.
Diese Gegensätze werden auch in einem der aufwühlensten Erlebnisse meiner Kindheit sichtbar. Ich schnitzte gerne. Meine Mutter war sehr tolerant, und unser Zimmer glich bisweilen einer Werkstätte voller Spähne. Einmal, ich war allein, saß ich beim Fenster und schnitzte einen Feuerdolch, d.h. die Klinge des Dolches verlief flammenförmig. Es ist vielleicht kein Zufall, daß ich hier zwei Symbole der NS Zeit in Holz vereinte: Dolch und Flamme. Mein Schnitzwerkzeug war mein ganzer Stolz, ein Messer, das außer den zwei Klingen, der großen und der kleinen, noch allerhand Zubehör hatte, wie einen Schraubenzieher, einen Flaschenöffner, einen Korkenzieher und dergleichen mehr. Mein Messer war ein schweres Ding, und wenn ich beim Schnitzen nur die große Klinge aufgeklappt hatte, so ergab sich ein rechter Winkel an jener Stelle, wo die Klinge entsprang. Ich schnitzte und feilte abwechselnd und legte das Messer zuweilen auf das Fensterbrett. Es war ein sonniger Tag. Unter unserem Fenster verlief über die ganze Breite des Hauses ein Balkon. Er gehörte zur Wohnung der Frau Seidl, einer Reichsdeutschen, deren Mann eingerückt war. Sie hatte ein kleines, damals eineinhalb Jahre altes Kind. Es saß genau unter unserem Fenster auf dem Holzboden des Balkons und spielte. Ich bemerkte das nur am Rande, ich beobachtete das Kind nicht weiter. Ich legte die Feile weg und griff nach dem Messer. Es mußte ganz am Rand gelegen sein, denn ich stieß es mit einer unachtsamen, ungenauen Bewegung, da ich gar nicht aufgeblickt hatte, vom Fensterbrett. "Ursula!", durchschoß es mich. Ich sprang auf und beugte mich aus dem Fenster. Was nun folgte war ein Erlebnis meiner Kindheit, das mich zutiefst erschütterte. Ich sah das schwere Messer ganz langsam mit der Klinge voran auf den Kopf des Kindes sinken, dann wie durch ein Wunder kam es mir wieder entgegen und fiel dann in weitem Bogen auf das Gras der Wiese. Die Wäscheleine, an der sich das bei der Klinge sehr kantige Werkzeug gefangen hatte, schwang noch nach. Ursula hatte nichts gemerkt. Ich aber kniete mich nieder und betete. Ich hatte jahrelang schon nicht mehr gebetet, aber in jener Minute fiel mir ein Gebet der Kindheit ein und ich dankte innig. Es schien mir, daß ein Schutzengel das Kind behütet hatte.
Im Herbst des Jahres 1943 kam ich nach Salzburg in die Lehrerbildungsanstalt (LBA). Die Ausbildung war kostenlos und auch das Schülerheim kostete meine Mutter keinen Pfennig. Im Gegenteil, wir Zöglinge bekamen vom Staat ein Taschengeld ausbezahlt. Drei Erinnerungen haben direkten Bezug zum Nationalsozialismus. Unser Mathematiklehrer des ersten Jahrgangs war Fachlehrer Steingreß, einer jener seltenen Mathematiklehrer, der nicht gefürchtet war und seinen Stoff mit großer Klarheit vortrug und ihn deshalb leicht verständlich machte. Wenn er den Klassenraum betrat, stellte er sich vor die erste Bankreihe und hob die Hand. Wir grüßten wie aus einem Mund mit "Heil Hitler", worauf er die ausgestreckte Hand senkte und dabei sagte "Setzen". Er grüßte nicht mit Heil Hitler. Es ist mir heute klar, daß Fachlehrer Steingreß auf diese Weise seinen Protest ausdrückte und einiges riskierte. Den Direktor der Schule, Dr. Gehmacher, habe ich als grauhaarigen, etwas fahrigen und launenhaften Lehrer in Erinnerung. Seine Deutschstunden konnten eine Qual aber auch das reinste Vergnügen sein. Wenn er öffentlich in seiner Funktion als Führer der LBA auftrat, trug er eine braune Uniform. Mitunter trat die ganze Schülerschaft zum Appell an und er stattete, in etwas schlottriger Art, dem um Jahre jüngeren Bannführer List Meldung ab. Ich erinnere mich, daß mir diese Situation Unbehagen bereitete. Ich empfand die Sache als unpassend und beschämend. Die dritte Erinnerung bezieht sich eben auf jenen Gestapobeamten, der mir vom Sehen her bekannt war, da er im Beamtenviertel meines Heimatortes wohnte. Er begegnete mir einmal in den Gängen der Lehrerbildungsanstalt, die damals im Universitätsgebäude untergebracht war. Ich grüßte mit Heil Hitler. Ich weiß nicht, ob er mich wiedererkannte. Jedenfalls blieb er stehen und begann ein Gespräch. Er versuchte etwas über die Professoren zu erfahren. Nun war ich ein guter Schüler und hatte in gutes Verhältnis zu meinen Lehrern. Es gab keinen Grund zur Klage, aber offensichtlich war er nicht am Unterricht und an den fachlichen Qualitäten meiner Professoren interessiert und nannte sie am Schluß eine "schwarze Gesellschaft". Die politische Bedeutung der schwarzen Farbe war mir auch damals 1943/44 noch nicht klar. Aber sein Fragen machte mir aufs neue bewußt, daß er eben auf jene aus war, die in Hitler einen Verbrecher sahen. Ich hätte damals Wetti verraten können, aber ich war schon früher zu dem Entschluß gekommen es nicht zu tun. Gott sei Dank.
Den Geschichtsunterricht in der LBA erteilte Prof. Dr. del Negro. Ich erinnere mich, daß wir ihn einmal fragten, was er von der Entwicklung an der Ostfront hielt. Die deutschen Truppen waren auf dem Rückzug. Offenbar beschäftigte uns das Geschehen. Prof. del Negro erläuterte die Lage, verwies auf die stabilen Abschnitte der Front und meinte, daß der Rückzug hinter den Pripjet-Sümpfen zum Stillstand kommen werde.
Im Lehrerhaus waren wir eine fröhliche Schar von Jungen. Die Politik spielte so gut wie keine Rolle. Der Gegensatz, in dem wir uns gegenüber der Heimleitung fanden, hatte keinen politischen Aspekt, obwohl es sich um alte Nationalsozialisten handelte, sondern einen ernährungsmäßigen. Die Heimleiterin, deren Spitzname "Schweifin" hieß, war eine dicke Frau. Sie ließ es sich offenkundig gut gehen und zwar, wie wir meinten, auf unsere Kosten. Wir waren mit dem Essen nicht zufrieden. Manchmal gab es Erdäpfel mit Butter. Die Kartoffel wurden in einer großen Schüssel gereicht, wir konnten haben soviel wir wollten. Butter wurde uns in quadratförmigen Scheibchen aufs Teller gelegt, etwa 1 dkg. Das Problem bestand nun darin: war es ratsam dieses kleine Stück Butter in winzigen Portionen auf alle Kartoffel aufzuteilen oder sollte man die Erdäpfel erst trocken hinunterwürgen und sich auf die zwei, drei saftigen Butterbissen bis zum Schluß freuen. Zum Heim gehörte ein großer Obstgarten. Des nachts seilten wir uns vom ersten Stock ab und stahlen Äpfel. Es ging nicht nur um das etwas unreife Obst sondern um Abenteuer und wohl auch um Vergeltung.
Die meisten von uns wollten so oft wie möglich heimfahren. Allzu oft mußten wir aber bei Begräbnissen und Feiern uniformiert auftreten. Wir waren ein Gruppe von etwa dreißig Buben, die jederzeit zur Verfügung stand, sei es, daß ein alter Nationalsozialist zu Grabe getragen wurde, sei es, daß eine Feier stattfand. Ein Teil von uns bildete überdies eine Sprechschar, Sprüche und Gedichte waren stets Bestandteil jeder nationalsozialistischen Feier.
Einmal in der Woche mußten wir in Uniform in die Schule gehen. Das war uns unangenehm. Die Lehrpläne der Lehrerbildungsanstalt waren zweifellos wie jene der Hauptschule von nationalsozialistischem Gedankengut geprägt. Wir nahmen die nationalsozialistische Ideologie als etwas Selbstverständliches in uns auf. Unter unseren Lehrern war kein fanatischer Nationalsozialist. Ich erinnere mich an keine Indoktrinierung oder politische Schulung in der LBA. Diese spielte eine viel größere Rolle in den Lagern der Hitlerjugend, zu denen wir einberufen wurden.
Ich erinnere mich an sieben: ein Zeltlager, drei Schilager, ein Führerlager, ein Wehrertüchtigungslager und Modellbauwochen. Sieben Lager in sieben Jahren, d.h. einmal im Jahr waren wir für drei Wochen dem Elternhaus bzw. der Schule fern. Den Anfang bildete das Zeltlager in Bischofshofen, im ersten Sommer nach dem Anschluß. Es gab viel der üblichen Lagerromantik. In der Nähe des Wasserfalls standen die großen weißen Zelte. Singen, Spielen, Lagerfeuer. Damals lernten wir die Lieder "In den Ostwind hebt die Fahnen" und "Und die Morgenfrüh, das ist unsere Zeit". In Erinnerung geblieben ist mir der Kakao, den es zum Frühstück gab. Er hatte nicht annähernd den guten Geschmack, den ich von zu Hause gewohnt war. Die Woche verging uns Pimpfen schnell. Die folgenden Lager dauerten alle jeweils drei Wochen. Besonders das "Führerlager" in Grödig ist mir in Erinnerung geblieben. Wie schon der Name sagt, sollten Führer für die Hitlerjugend geschult werden. Hier spielte die Ideologie eine ebenso große Rolle wie die sportliche und vormilitärische Ausbildung.
Wir sollten auch lernen vor einem Zuhörerkreis zu sprechen und unsere Argumente vorzubringen. Ich meldete mich für eine solche politische Redeübung. Das Thema konnte ich mir selbst aussuchen. Ich sprach damals, im Sommer 1944, als Sechzehnjähriger über den Krieg. Die Gliederung meiner kleinen Ansprache habe ich noch genau im Kopf. Man könne, so führte ich aus, den Krieg in drei Abschnitte einteilen. In der ersten Phase habe Deutschland dank seiner technischen Überlegenheit Blitzsiege errungen. In der zweiten Phase habe der Gegner aufgeholt, was unseren Rückzug zur Folge hatte. In der dritten Phase seien wir daran durch die V-Waffen eine technische Überlegenheit wiederzuerlangen. Die Technik, damit schloß ich, sei aber nicht allein ausschlaggebend. Es komme auch auf den Kampfgeist an und den müßten wir, Deutschlands Jugend, unter Beweis stellen, indem wir uns kriegsfreiwillig meldeten.
Ich erinnere mich an einen schönen Sommertag. Der Himmel war blau und nur zwei langgestreckte große Wolken standen, so schien es zunächst, [?] im blauen Himmel. Doch der Wind trieb sie unmerklich zusammen, und zwar so bis sie dem Sieg-Runenzeichen glichen, das in unserer Wimpel stand. Wenn es zwei wären, hieße es SS, dachte ich, und dann fielen mir einige obszöne Sprüche ein, die ich von Gleichaltrigen gehört hatte und die ich hier nicht wiedergeben kann. Ich vermag das heute nur so zu deuten, daß [gegenüber] dem NS-Staat, mit seinen zahllosen Organisationen, für die es jeweils prägnante Abkürzungen gab, auch eine latente Feindseligkeit bestand, die sich in solch obszönen Sprüchen entlud. Die Sache war einfach, man fügte jeden Buchstaben der Abkürzung zu [mit?] einem Wort zusammen und verband die Worte zu einem obszönen Sinn-Ganzen.
Das Haus der Natur war im jetzigen großen Festspielhaus untergebracht. Im Stiegenaufgang hing an der linken Seite eine Bilderreihe. Man sah eine große Menschenmenge und einen Redner, der eine begeisternde Ansprache hielt. Ich kann die weiteren Bilder nicht mehr genau beschreiben, nur den zugrundeliegenden Gedanken vermag ich wiederzugeben. Im nächsten Bild sah man Mann und Menge aus der Vogelperspektive. In weiteren Bildern schrumpfte die Masse noch mehr zusammen, bis man gar nichts mehr sah als ein paar schwarze Punkte und winzige Häuschen. Im ersten Bild gab es keinerlei politische Symbole und doch verknüpfte ich den Redner mit Hitler, dem er natürlich nicht glich. Aber auch ohne diese Bindung an die Politik war die Botschaft klar: "Mensch, du meinst Größe zu besitzen und bist doch klein." Ich konnte es schon damals nicht verstehen, daß man diese Bilder hängen ließ.
Feiern war nicht nur Bestandteil unserer eigenen Erziehung im nationalsozialistischen Geist. Feiern wurden auch durchgeführt, um bei besonderen Anlässen den Erwachsenen Einheit, Geschlossenheit und Siegeszuversicht zu vermitteln. Für diese Feiern brauchte man zur Gestaltung jugendliche Sprecher, die geeignete Zitate, Fahnensprüche etc. vortrugen. Die Sprechschar der Hitlerjugend Salzburgs wurde durch Professor Fuchs geführt. Er hatte den Text zu einem Fotoband über Salzburg verfaßt. Die Fotographien stammten von unserem Zeichenlehrer, Prof. Schmiedbauer. Prof. Fuchs war ein gebildeter Mann, er war Gaupresseamtsleiter. Er war klein von Gestalt, hatte graues Haar, scharf und klug blickende schmale Augen. Wir nannten ihn liebevoll "Füchslein". Als schon beinahe täglich amerikanische Bomber über Salzburg folgen lernte er noch ein Theaterstück mit uns ein: "Robinson darf nicht sterben". Es blieb bei den Proben.
Einmal hielt Füchslein einen Vortrag über Mozart, der mir gut gefiel. Ich wußte, daß er mich später ausfragen würde. Die klare Gliederung seiner Rede machte es mir leicht, vieles im Kopf zu behalten. Ich spürte die staunende Anerkennung, als ich ihm eine kurze Zusammenfassung seiner Rede gab, denn er fragte mich, wie ich vermutet hatte, darüber aus.
Ich erinnere mich mit Schrecken daran, daß ich das Füchslein beinahe erschossen hätte. In den letzten Monate des Krieges war es verhältnismäßig leicht in den Besitz von Waffen zu kommen. Ein Traum meiner Karl May und Wildwestzeit wurde Wirklichkeit. Ich besaß eine echte Pistole. Ich trug sie mit scharfer Munition geladen mit mir herum. Als ich sie dem Füchslein zeigte, löste sich ein Schuß. Wir wurden beide bleich. Den Einschlag fanden wir später in einem Bild, das an der Wand der Gaupresseamtsleitung hing.
[Nun] fielen erstmals Bomben auf Salzburg. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir den Krieg nur aus Nachrichten und Sondermeldungen gekannt. Nach dem Angriff vom [---] wurden wir zu Aufräumungsarbeiten im Andräviertel eingesetzt. Wir trugen einen einheitlichen grauen Arbeitsanzug. Erstmals in meinem Leben sah ich blutige Leichenteile, die man auf eine Zeltplane gelegt hatte. Der Krieg war blutige Wirklichkeit geworden - aber er war doch auch noch Abenteuer. Da stand eine Hausruine, deren Vorder- und Rückseite eingestürzt war. Man konnte vom Erdgeschoß bis zum Dachboden durch alle Zimmer hindurchsehen. Auch das Stiegenhaus war intakt. Wir wagten uns in die höchstgelegenen Wohnungen hinauf um noch Wertgegenstände zu bergen. Als am nächsten Tag ein Zeitzünder explodierte, stürzte das Haus ein. Keiner der waghalsigen Hitlerjungen war im Gebäude. Wenn der Zeitzünder früher explodiert wäre - uns schauderte bei dem Gedanken. Wir waren damals eine Stunde dem Tod nahe gewesen ohne es zu wissen.
Von nun an wurde der Aufenthalt in den Luftschutzstollen des Mönchsbergs eine Sache, die sich in immer kleiner werdenden Abständen so oft wiederholte, bis sie zur Alltäglichkeit wurde. Wenn es nur irgendwie ging, wenn also die Sirenen nicht in der Schulzeit aufheulten, nahm ich mein Fahrrad und fuhr zu den Salzachseen. Einmal überflog ein amerikanisches Doppelrumpf-Flugzeug zweimal den See. Ich befürchtete die Speichen meines Fahrrades könnten in der Sonne aufleuchten und duckte mich hinter einen dicken Baum. "Ob der schießen würde, wenn ich im See schwämme?", dachte ich. Ich erinnere mich dieses Gedankens. Es war der Sommer 1944.
Von Grödig aus, wo wir in einem HJ Lager waren, beobachteten wir eines Nachts den Angriff feindlicher Bomber. Die hellen Lichtarme der Scheinwerfer suchten tastend den Himmel ab, erfaßten ein silber glänzendes Flugzeug. Flakgeschosse explodierten in einem unheimlichen Feuerwerk. Wir hörten das Krachen der Bomben und dann die surrenden, singenden Geräusche, die von herabfallenden Granatsplittern der Flakgeschosse stammten.
Hitler war auf Schloß Kleßheim. Ich nehme an, daß es im April 1944 war. Schloß Kleßheim war unversehrt und mag einen prunkvollen Rahmen für eine Geburtstagsfeier geboten haben. Vielleicht war der Anlaß für den Aufenthalt des Führers auch ein anderer. Ich weiß es nicht. Jedenfalls mußten wir Hitlerjungen die Straße bei der Ausfahrt nach Salzburg säumen. So etwa alle 20 Meter stand ein Hitlerjunge und hob den Arm zum stummen Gruß, als das Auto Hitlers vorüberrollte. Er stand im Wagen, blickte weder links noch rechts und hob von Zeit zu Zeit den Arm, um unseren Gruß zu erwidern. Seine Gesichtsfarbe war beinahe aschgrau und hatte einen gelben Ton. Am Abend sagte die Heimleiterin: "Hitler ist ein kranker Mann".
Im Herbst 1944 kam der ganze Jahrgang auf ein Wehrertüchtigungslager. Es dauerte sechs Wochen. Der Sport trat nun in den Hintergrund, die vormilitärische Ausbildung stand an erster Stelle. Hier war es, daß ich zum ersten Mal eine Panzerfaust explodieren sah. Wie gerne hätte ich sie abgeschossen! An einer durch übereinandergelegte Eisenbahnschienen gebildeten Wand sollte uns die Wirkung demonstriert werden. Denng Reinfried wurde ausgewählt sie abzufeuern. Er traf die eiserne Wand nicht.
Es wurde großer Druck auf uns ausgeübt, daß wir uns kriegsfreiwillig melden sollten. Der ganze Jahrgang 1928 meldete sich mit einer Ausnahme. Siegfried Müllegger sagte nein. Er werde selbstverständlich einrücken, wenn er einberufen werden sollte, aber kriegsfreiwillig wolle der sich nicht melden. Wir sahen mit einer gewissen Verachtung auf ihn herab. Er war klein von Gestalt aber von uns wegen seiner Intelligenz geachtet. Wie wenig wir das Recht hatten, ihn gering zu schätzen, weiß ich heute. Es war in der gegebenen Situation geradezu heldenhaft nein zu sagen.
In den letzten Monaten des nationalsozialistischen Regimes kam die reguläre Tätigkeit der Hitlerjungend mehr oder weniger zum Erliegen. Wohl aber rief der Bannführer List die Führerschaft der Hitlerjungend, zu der ich nach dem Führerlager in Grödig gehörte, um sich zusammen. Wir machten Märsche, Geländespiele und durchstreiften die Umgebung Salzburgs. Wir waren ein wilder und doch disziplinierter Haufen. Wild, weil wir in jugendlichem Fanatismus zu allem bereit waren, diszipliniert, weil wir eine Elite im kleinen darstellten und Bannführer List mit Autorität führte. Wenn wir über die Berge zogen schrie immer wieder einer, der über eine besonders kräftige Stimme verfügte, "Volkssturm" und die Gruppe setzte dann im Chor mit einem kräftigen "Heil" fort. "Volkssturm heil, Volkssturm - heil", hallte es über die braunen Herbstfelder. Nie sahen wir auch nur einen Menschen. Die Bauern schienen sich in ihren Gehöften verkrochen zu haben. Ihnen mag unser Ruf aus jungen Kehlen unheildrohend geklungen haben.
Einmal marschierten wir strammen Schrittes der Staatsbrücke zu. Wir sahen einen Mönch mit wallender brauner Kutte. Er hatte denselben Weg eingeschlagen. Als wir ihn sahen, sangen wir trotzig "Es zittern die morschen Knochen". Er mag wohl gelächelt haben, als er hörte "Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt". Ja, das sangen wir, und das, obwohl auf dem letzten Lager in Grödig der Text etwas geändert worden war. Da hatten wir singen müssen "Heute da hört uns Deutschland und morgen die ganze Welt". Dem Radikalismus und Fanatismus der Jugend lag gewiß die erste Fassung besser: "Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt."
Wir HJ-Führer kamen also verhältnismäßig oft zusammen. An einem Abend sagte der Bannführer: "In zehn Jahren sind wir wieder an der Macht." Das war ein Satz, der mich nachdenklich stimmte.
Unser Gebietsführer war in jener Zeit Dolf [Rolf?] Neutatz. Er folgte auf Gebietsführer Stöger. Der neue Führer des Gebietes 32 hatte nur mehr einen Arm. Er war Kriegsinvalide. Auf seiner Brust trug er hohe Auszeichnungen, darunter das EK L.
Eines Tages teilte uns der Bannführer mit, der Gebietsführer benötige einen HJ-Adjutanten, der ihm behilflich sein müsse, da er durch seine Verwundung behindert sei. Ich meldete mich. Gebietsführer Neutatz war ein angenehmer Vorgesetzter. In der Art preußisch militärisch und doch mit einem Herz für die Jugend und für den Jungen, der ihm zugeteilt worden war. Wenn ich nichts zu tun hatte - ich wurde für kleine Botengänge gebraucht und begleitete den Gebietsführer - las ich Karl May. Es wurde geduldet. In den Tagen vor Weihnachten mußte ich für ihn in den Sudetengau fahren. Er hatte in der Nähe von Karlsbad Verwandte. Ich brachte einen Anzug dorthin und sollte Nahrungsmittel mitbringen. Die Fahrt ist mir deshalb in Erinnerung, weil unser Zug oft stundenlang auf freier Strecke zu stehen kam. Einmal eilte ein Gerücht von Waggon zu Waggon, daß die V3 im Einsatz sei. Auch auf den Bahnhöfen hieß es oft warten. In der großen Halle des Bahnhofes Aussig war es sehr kalt. In eigenartiger Intonation klang es aus dem Lautsprecher "Hier Auuuußig Stadt"... Ich war natürlich in Uniform und hatte die Hände in die Taschen der Hose gesteckt. Da trat jemand von hinten an mich heran und zog mir die Hände aus dem Taschen. Das war eine Rüge: "Ein HJ-Führer steckt doch seine Hand nicht in die Hosentasche, wenn er Uniform trägt", hieß das wohl. Ich zog die Konsequenz und knüpfte die grüne Schnur, die meinen Rang nach außen hin zeigte und an Achselkappe und Blusenknopf hing, schweigend ab. Das war ein beachtlicher Protest.
In jener Zeit war unser Gebietsführer auch Volkssturmführer von Salzburg. So war der HJ-Adjutant also auch Adjutant des Volkssturmführers. Aus jener Zeit sind mir drei Vorfälle in Erinnerung und eine Frage, die ich an Volkssturmführer Neutatz richtete.
Eines Tages fuhren wir nach Lofer. Volkssturmführer Neutatz sprach zum Volkssturm des Pinzgauer Ortes. Er verwies dabei auf seine Verwundung: "Ihr seht, ich weiß, was es heißt zu kämpfen. Die Russen haben mir einen Arm weggeschossen." Er beschwor sodann den Geist von 1809, der es zuwege brachte, daß die Schützenkompanien der Gebirgsbauern den Franzosen schwerste Verluste beibrachten. Der militärisch überlegene Gegner [erlitt ?] eine empfindliche Schlappe.
Eines Tages kam Oberst Lepperdinger in das Haus Kapitelgasse [---], in dem das Hauptquartier des Volkssturms untergebracht war. Er hatte eine Besprechung mit Volkssturmführer Neutatz. Als er ging sagte der hohe Offizier, in der Tür stehen bleibend und sich nochmals wendend, "Wir werden Salzburg verteidigen." Ich weiß heute, daß er das sagen mußte, daß er seine Pläne der kampflosen Übergabe der Stadt nicht offen mitteilen konnte. Als ich später [---] von der Kapitulation Salzburgs an die Amerikaner hörte, rief ich "Lepperdinger ist ein Verräter!"
Einmal fuhren wir zu einer Inspektion nach Glasenbach. Dort fand eine Gefechtsübung des Volkssturms statt. Da keuchten sie heran, die Männer mit grauen Haaren. Und siehe da, einer davon war Herr Karl Bach, jener Illegale aus dem Pöllnhaus. Er wurde vor meinen Augen zusammengeschrien, weil er sich nicht richtig verhalten hatte. Er sah mich nicht und hätte mich sicher nicht erkannt. Meines Wissens nach hatte er in Wien im Zuge der Arisierung eine Brennstoffhandlung von einem Juden übernommen. Als sich das eiserne Band enger und enger um unsere Heimat zog, war er wohl nach Salzburg zurückgekehrt. Nun stand er keuchend da und wurde, wie wir damals sagten, "zusammengepfiffen". Seine Vergangenheit hatte ihn eingeholt.
In jenen letzten Monaten fragte ich einmal den Gebietsführer: "Können wir diesen Krieg noch gewinnen?" An die Antwort erinnere ich mich nicht.
Im Herbst 1944 oder Frühjahr 1945 hörte ich von unserem Zimmer aus, wie sich unser hochverehrter Direktor Hoffmann [Hofman?] mit dem Direktor der Sparkasse St. Johann i.Pg. stritt. Das Pöllnhaus ist das Nachbargebäude der "Leuschner-Villa". Von unserem Wohnungsfenster konnte ich die beiden natürlich gut sehen und auch Teile des Gesprächs verstehen. Es war ein militärisch-politischer Streit. Der Schulmann und Rhetoriker Hoffmann verteidigte den Nationalsozialismus und die militärische Lage. Der Sparkassendirektor als kühler Rechner und Realist sah offenbar das Ende klar voraus.
Dieser Streit war vielleicht die erste Ankündigung jenes tiefen Falls, den unser Direktor erleben mußte. Er hatte eine Wohnung im Gsodamhaus, das unmittelbar neben der Kirche steht. Als die Amerikaner kamen, mußte er sie räumen. Er bekam ein Quartier in der sogenannten Friedhofsbaracke. Er, der einst zu den obersten Kreisen des Ständestaates gehört hatte und später ein führender Schulmann war und als Gauredner weit über die Grenzen unseres Heimatortes bekannt geworden war, er mußte nun in einem Elendsquartier hausen. Ob diese Demütigung von den Amerikanern veranlaßt wurde oder ob Direktor Hoffmann Feinde im eigenen Volk hatte, ich weiß es nicht. Er konnte jedenfalls die Kränkung und Demütigung nicht überwinden. Ich sehe ihn noch vor mir, fahlgelb im Gesicht, an jeder Hand ein kleines Kind führend - er hatte spät geheiratet - auf einsamen Wegen gehend. Er war schon an Krebs erkrankt. Vor seinem Tode versuchte ich als junger Lehrer zaghaft mit ihm in Kontakt zu treten. Er hatte sich in einem Brief an die Volksschuldirektion gewandt und mitgeteilt, daß er eine Versicherung vertrete und Bücherbestellungen entgegennehme. Ich hatte bei ihm ein Werk Arnold Toynbees bestellt. Direktor Hoffmann suchte kein Gespräch mit mir. Vielleicht erkannte er mich nicht, vielleicht schämte er sich, wenn auch ganz zu Unrecht, seiner Behausung. Er bot ein Bild völliger Resignation und Verbitterung und war schon vom Tode gezeichnet.
Herbst 1944. Es war im Obus. Im Auftrag des Gebietsführers mußte ich sein Dienstmädchen, eine Polin, aus Seekirchen abholen und zu irgend einer Dienststelle bringen, deren Namen ich nicht mehr weiß. Das Mädchen war sehr schön. Wir sprachen nicht, aber sie unterhielt sich im Obus mit einer älteren Landsmännin, die einen Sitzplatz hatte. Ich und andere Fahrgäste standen. Ich ließ die sitzende Polin aufstehen um Platz für einen deutschen Fahrgast zu machen. Die ältere Polin wurde durch meine Aufforderung wütend und rief zwei-, dreimal "Du nix Kultura, nix Kultura!" Als wir den Obus verlassen konnten, war ich heilfroh. Ich war in HJ-Uniform. Der Vorfall ist für mich beschämend, aber ich wollte ihn nicht verschweigen, weil er ein Licht auf unsere Einstellung wirft. Meine bildschöne Polin ging in einen Bäckerladen, um sich Brot zu kaufen. Sie hatte Brotmarkerl. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich war hungrig und hatte keine Markerl.
Anfang Mai flutete eine graue Welle des Rückzugs durch das Salzachtal. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs. Ich hielt mich an einem Militärlastwagen fest und ließ mich ziehen. Dabei kam ich zu Sturz, verletzte mich aber nicht. Außerhalb von Schwarzach, unweit jener Straße, die nach Goldegg führt, kam der Konvoi des Volkssturms zum Stehen. Dort löste sich alles auf. Ich war nach einer viertelstündigen Fahrt mit dem Rad zu Hause. Im Kreise der HJ Führer hatten wir öfters darüber gesprochen, daß wir als Werwölfe in den Untergrund gehen würden. Diese Vorsätze waren schnell vergessen. Wir warteten auf die Ankunft der Amerikaner.
Der Ort war beflaggt. Plötzlich wehten überall rot-weiß-rote Fahnen. Dieses allzu offensichtliche Bekenntnis zu Österreich empörte mich. Ich fühlte mich noch als Deutscher.
Das Ende des Krieges, die fürchterliche Niederlage, der Tod Adolf Hitlers, unseres Ideals, all das war für mich ein schwerer Schock. Als ich die ersten Amerikaner sah - Soldaten der Rainbow Division - kam ich aus dem Erstaunen nicht heraus. Was waren das doch für prächtige Kerle. Ich hatte erbärmliche Gestalten erwartet. Das bedarf einer Erklärung: Wir waren erzogen worden, den arischen Menschen indirekt als Herrenmenschen anzusehen. In uns wuchsen die kommenden Herrscher der Welt heran. "Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt." Der Arier sollte über die rassisch Minderwertigen herrschen. Als ich noch in der Hauptschule war, zeigte man uns einen Film über gefangengenommene Russen. Es war der "Abschaum der Menschheit", den man uns da vor Augen führte. Die Russen sahen aus wie Verbrecher. Es waren Menschen mit tierischem Gesichtsausdruck, brutale, kriminelle Typen, mit einem Wort "Untermenschen". Durch diese Bilder sollte wohl der Angriff auf Rußland gerechtfertigt und uns bewußt gemacht werden, daß wir einer besseren Rasse angehörten, nämlich der arischen Herrenrasse.
Ich erinnere mich noch ein anderes Bild, das ich ebenfalls im Film sah. Es war aber vermutlich nicht jener, der die Untermenschen darstellte, sondern eine deutsche Wochenschau. Gefangene Russen marschierten hinter der deutschen Front. Einer war verwundet und hatte seine Hände um zwei andere Gefangene gelegt, die ihn stützten und mitführten. Er war am Bein verwundet und hätte allein nicht gehen können. Es war ein Bild der Kameradschaft.
Wir, und damit meine ich junge Menschen etwa der Jahrgänge 1928-1931, reagierten zunächst mit Trotz gegen die Sieger. Das äußerte sich darin, daß wir uns mit "Heil" begrüßten, obwohl wir das früher nie getan hatten. Wir ließen "Hitler" natürlich weg und hoben auch nicht den rechten Arm sondern drückten uns nur die Hände. Aber es war in versteckter Form doch der Hitlergruß, den wir demonstrativ vor den jungen Amerikanern benutzten um uns zu begrüßen.
Wenn wir in den neuen Wochenschauen Leopold Figl, den Bundeskanzler sprechen hörten, lachten wir. Uns klang noch die Rhetorik Göbbels und Hitlers in den Ohren. Mädchen, die sich den Siegern an den Hals warfen, verachteten wir als Ami-Flitscherln und Geschmeiß. Und jene, die mit serbischen Offizieren gingen, traf ein ähnlich hartes Urteil. Die serbischen Offiziere waren königstreu und konnten oder wollten nicht ins kommunistische Jugoslawien zurückkehren. Sie hatten gute Manieren, waren gebildet und fanden teilweise Zugang zu den höheren Gesellschaftsschichten St. Johanns. Mädchen, die mit ihnen gingen, verachteten wir dennoch.
Näher bekannt wurden wir mit einem amerikanischen Militärgeistlichen. Wir nannten ihn Chaplain. Er ließ sich von uns im Gasthaus Geringer, in einem im ersten Stock gelegenen Raum, Nazilieder vorsingen. Wir beherrschten sie noch alle und es war uns eine Lust, die alten, nunmehr verbotenen Lieder wieder laut singen zu dürfen. "Deutschland, Deutschland über alles" - unter welch sonderbaren Umständen erklang es nochmals. Wollte er, daß wir uns abreagieren? Wollte er einen akustischen Eindruck jener Zeit gewinnen, die uns geprägt hatte? Ich weiß es nicht.
Der Chaplain beschützte uns auch vor den Prügeln, die uns ein Pole - er trug amerikanische Soldatenkleider, war aber kein Soldat, sondern nur für niedere Dienste angestellt - in seinem wohl berechtigten Haß auf alles Deutsche zudachte.
Als im Januar oder Februar 1946 die Schule wieder begann, fand sich der alte Jahrgang wieder zusammen. Dazu kamen ein paar ältere Schüler, die der Krieg in der Schullaufbahn zurückgeworfen hatte.
Ich glaube, es hat kaum je eine Klasse gegeben, die so ruhig und diszipliniert war wie unser Jahrgang. Uns allen steckte die nationalsozialistische Vergangenheit in den Knochen. Ein tiefes Mißtrauen erfüllte uns, ein tiefes Unbehagen, an der Politik überhaupt. Unsere Professoren schwiegen sich über alles aus, was den Nationalsozialismus betraf. Als ich dieser Tage den Aufsatz Viktor Frankls "Trotzdem Ja zum Leben sagen" in einer Ausgabe aus dem Jahre 1946 las, fiel mir auf, daß der bedeutende Psychologe, der selbst im KZ inhaftiert gewesen war, das Kind nicht beim Namen nennt. Er spricht von der "jüngst vergangenen Zeit". Mir fällt nur eine Ausnahme ein. Unser Professor für Geographie Jakob Lechner sagte einmal - der Zusammenhang ist mir entfallen - "Glauben Sie wirklich, daß Rosenberg ein ganzer Trottel war?"
Das bisher Beschriebene ist dem Schock der Niederlage, der enttäuschten Liebe zu Hitler zuzuschreiben, alles ist eher Reaktion als bewußtes In-die-Hand-Nehmen der Vergangenheit, es ist Antwort, nicht Frage und Urteil.
[Rest fehlt]
Nach dem Kriegsende sahen wir im Kino Aufnahmen, die bei der Befreiung der KZ-Gefangenen gemacht wurden. Es war so erschütternd und eindeutig, daß für mich kein Zweifel über die Echtheit bestehen konnte. Nun wußte ich, was es geheißen hatte "Du kommst nach Dachau".
(zum Abschnitt Napola)
von Hans Baumann
1. Als Jungen wurden wir
Soldaten, Die niemals die Fahne verraten. Rebellen, Rebellen, Haben den Tod und den Teufel zu Gesellen. Rebellen haben das Gestern vergessen, Sie bauen das Morgen, vom Glauben besessen. Vom Glauben ans ewige Reich, Von Glauben ans ewige Reich. 2. Den einen Schwur, den wir schwören, Der soll dem Führer gehören! Rebellen, Rebellen, Haben den Tod und den Teufel zu Gesellen. Rebellen haben das Gestern vergessen, Sie bauen das Morgen, vom Glauben besessen. Vom Glauben ans ewige Reich, Von Glauben ans ewige Reich. |
3. Wir rütteln an allen
Türen, Ein jeder soll Deutschland spüren. Rebellen, Rebellen, Haben den Tod und den Teufel zu Gesellen. Rebellen haben das Gestern vergessen, Sie bauen das Morgen, vom Glauben besessen. Vom Glauben ans ewige Reich, Von Glauben ans ewige Reich. 4. Wir werden die Berge berennen, Bis überall Feuer brennen. Rebellen, Rebellen, Haben den Tod und den Teufel zu Gesellen. Rebellen haben das Gestern vergessen, Sie bauen das Morgen, vom Glauben besessen. Vom Glauben ans ewige Reich, Von Glauben ans ewige Reich. |
5. Was ist aus uns Jungen
geworden? Ein stürmender Schwerterorden. Rebellen, Rebellen, Haben den Tod und den Teufel zu Gesellen. Rebellen haben das Gestern vergessen, Sie bauen das Morgen, vom Glauben besessen. Vom Glauben ans ewige Reich, Von Glauben ans ewige Reich. |