Inhaltsübersicht


2. Schwule Alltagspraxis

2.1 Interaktionsformen

Das Mikroelement der hier betrachteten Interaktionsformen ist die Klassifikation: Äußerungen, die einen Hinweis auf eine vorgenommene Einordnung in eine Kategorie von Weiblichkeit oder Männlichkeit enthalten. Als Beispiel:

Gerald will ins Nachbarlokal Joy gehen.
Gerald blickt in die Runde: "Und welcher Mann begleitet mich?"
Dieter: "Mich brauchst du nicht anschauen, ich bin kein Mann."

Das war ja nun sehr direkt. Es geht auch feiner:

Jakob sieht im Vorbeigehen eine Zeitschrift liegen. Er beugt sich vor. "Ist das Madonna?"
Hubert geduldig: "Ja, meine Liebe, das ist Madonna."

Man sieht, die Klassifikation kann unter Nutzung einer geschlechtsanzeigenden Sprache ganz beiläufig in eine Aussage gepackt werden, so als sei sie eine längst ausgemachte Sache, die aktuell gar nicht zur Debatte stünde. Durch das Heranziehen bekannter Symbole ist es möglich, die Explizitheit sogar noch weiter zurückzunehmen:

Hubert kommt von der Disco nach oben und schnappt sich seine Plastiktasche, die er bei der Bar abgestellt hat.
Andreas: "Hast du dein Schminkzeug vergessen?"
Hubert über die Schulter zurück: "Nein, meine Stöckelschuhe. Die nehm ich mit, sonst ziehst du sie wieder an."

Klassifikationen unterscheiden sich in mehreren Dimensionen:

Richtung: Wer klassifiziert wen? Gilt die Klassifikation dem Sprecher selbst oder einem anderen, und im letzteren Fall, gilt sie einem Anwesenden oder einem Abwesenden?
Ausdrucksform: Mit welchen Mitteln wird klassifiziert? Variieren kann der Grad der Direktheit, variieren können auch die Ausdrucksmittel, indem Symbole und körpersprachliche Statements herangezogen werden.
Gültigkeit: Ist die Klassifikation ernsthaft oder spielerisch? Eine ernsthafte Aussage erhebt den Anspruch, gültig in Bezug auf die gemeinsame Wirklichkeit zu sein, beim Spaß ist das nicht der Fall.

Es scheint hier nicht notwendig, diese Systematik der Alltagsklassifikation in allen Details zu erörtern und mit Beispielen zu belegen. Nützlich war sie vor allem bei der Auswertung des Beobachtungsmaterials. Allein durch das Volumen und die Zahl von 335 protokollierten Klassifikationen wurde eine Systematik erforderlich, die in der Folge auch den Einsatz quantitativer Auswertungsverfahren erlaubte. Deren Ergebnisse sollen hier nur punktuell im jeweiligen Zusammenhang erwähnt werden.

Vom kleinsten Element der Interaktion ausgehend können sich komplexere Formen entwickeln, indem die vorgenommene Klassifikation von den anderen Teilnehmern aufgegriffen, entgegnet oder bekräftigt wird. Das Geschehen nimmt auf diese Weise Verhandlungscharakter an. Von größter Wichtigkeit ist, ob die Teilnehmer dabei im Ernst oder im Spaß miteinander sprechen. Ernsthafte Kommunikation zeichnet sich durch Orientierung an der Wirklichkeit, Glaubhaftigkeit der Inhalte und Angemessenheit des Ausrucks aus, wie etwa im folgenden Beispiel:

Andreas erzählt von den Ereignissen des letzten Abends: "Der Werner war da, mit zwei Oberösterreichern, zwei totalen Männern, die sind so gegen halb zwei gegangen, und der Werner ist noch dageblieben bis zum Schluß."

Der Sprecher schildert hier seine Auffassung von der Wirklichkeit glaubhaft und angemessen, als Hilfsmittel der Orientierung verwendet er Namen, Geographie, eine Skala von Männlichkeit und Weiblichkeit, sowie eine Uhr. Im folgenden Beispiel kann eine derartige Orientierung an der Wirklichkeit nicht vorausgesetzt werden:

Gerald: "Fußball ist langweilig. Man müßte einmal was Neues machen - Damenfußball wär´ eine G´schicht´."
Dieter: "Spielst du dann auch mit? Du bist ja auch eine Dame."

Spaß wird sigalisiert durch Unangemessenheit in Form oder Inhalt, also durch unglaubwürdige Inhalte, überzeichnete Körpersprache, übertriebene Lautstärke etc. In einem solchen Modus der Kommunikation steht alles Gesagt in einer sehr lockeren Beziehung zur gemeinsamen Wirklichkeit, und die Anforderung an die Teilnehmer lautet lediglich, originell zu sein, den spielerischen Charakter der Interaktion deutlich zu machen und das Herbeiführen einer ernsten Verstimmung zu vermeiden.


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2.2 Ernsthafte Verhandlung

Im Falle von trockenem Humor und spitzzüngigen Bemerkungen ist die Form der Kommunikation undeutlich gekennzeichnet, was vermutlich auch den Reiz ausmacht. Es liegt am Angesprochenen, wie er die Sache aufnimmt und was er daraus macht. Nehmen wir gleich ein Beispiel, bei dem das Spiel mit Differenzen in Gefahr gerät, Ernst zu werden.:

Bei einem Kostümfest stellt Daniel einen Musketier dar.
Jörg zu Daniel: "Du hast dich heute herausgeputzt wie ein richtiger Mann."
Daniel: "Ich bin ein richtiger Mann, da brauch ich mich nicht herauszuputzen."

Daniel findet die Bemerkung nicht lustig, er will das Spiel nicht aufgreifen, sondern nimmt Bezug auf die (seine) Wirklichkeit. Die Interaktion bricht an dieser Stelle ab. Sie wird weder als Spaß noch als ernsthafte Verhandlung fortgeführt. Der Verlauf ist untypisch, denn in der Regel wissen die Teilnehmer derart verklausulierten Klassifikationen auf der selben Ebene zu begegnen und können damit auch klarstellen, daß nichts von dem Gesagten von ernsthafter Relevanz ist.

Wenn wir es als Merkmal einer Verhandlung verstehen, daß die Betroffenen beigezogen werden, oder zumindest über das Urteil in Kenntnis gesetzt werden, dann lautet das Ergebnis der Untersuchung in aller Kürze, daß sie nicht stattfindet. Zwar kommt es gelegentlich vor, daß die Teilnehmer die Wirkung ihrer Anspielungen und Bemerkungen falsch einschätzen, und die Interaktion in eine ernste Auseinandersetzung umschlägt, doch die führt zu keiner Klärung, sondern endet mit Beschwichtigungsversuchen oder mit Verstimmung. Solche Entwicklungen stellen Ausnahmen dar. Was es hingegen häufig gibt, sind gewissermaßen Expertengespräche, in denen es um abwesende Dritte geht.

Gerald zu Mario: "Kennst du den Leo? Ein ganz schwindliger Typ. Geh, Andreas, erzähl die Geschichte vom Leo! Die ist so herrlich!"
Andreas: "Der Leo hat sich für einen Werbespot beworben (...) und er war hier und hat uns das erzählt, und dann hat er gemeint, der Hubert hat sich da auch beworben, aber den Hubert kann man ja für sowas nicht nehmen, weil da braucht man nur maskuline Typen."
Gelächter.

Zwar wird in dem Beispiel gelacht, die Behandlung des Themas ist jedoch ernsthaft. Die Teilnehmer verständigen sich darüber, daß sowohl Leo wie Hubert tuntig sind, und das Lustige für sie ist, daß einer der beiden sich selbst für maskulin hält. Nach ihrer gemeinsamen Auffassung liegt er damit völlig daneben. Jedoch erhebt sich daraus keineswegs die Forderung, Leo´s Meinung müsse korrigiert werden. In der statistischen Auswertung des Klassifikationsgeschehens zeigt sich, daß ernsthaft geäußerte Klassifikationen Abwesender in einem hohen Maß gleichlautend ausfallen, daß es also eine breite Übereinstimmung in der Einschätzung einzelner Personen gibt. Gleichzeitig zeigt sich, daß ernsthafte Klassifikationen gegenüber Anwesenden nur sehr selten fallen, noch seltener in direkter Ausdrucksform, und am seltensten dann, wenn es um die Kategorie der Tunte geht. Das heißt: In dem Netzwerk der Bekanntschaften, das es den Teilnehmern erlaubt, gemeinsam über bekannte Dritte zu sprechen, bildet sich eine übereinstimmende Meinung heraus, wie diese Dritten im Spektrum von Tunte und Kerl zu verorten seien. Diese Meinung bleibt den Betroffenen aber vorenthalten. Es ist, als existiere eine ungeschriebene Regel, die eine offene Verständigung darüber untersagt.

Manfred und Andreas unterhalten sich zu zweit an einem Ende der Bar.
Manfred hüstelt mit hoher Stimme.
Manfred nach kurzer Pause: "Das war wieder sehr männlich, was?"
Andreas: "Ja, sehr männlich, Mimi!"
Manfred: "Mimi! Wer hat denn das erfunden, daß ihr mich Mimi nennt?"
Andreas: "Ich glaub, der Felix war´s. Ja, der Felix wars."
Manfred nickt. Das Thema wird nicht weiter verfolgt.

Vermutlich hätte niemand das hohe Hüsteln bemerkt, wenn Manfred es nicht selbst zum Thema gemacht hätte. Er tut dies in paradoxer Weise und bringt die Kommunikation damit in den spaßhaften Modus. Andreas steigt darauf ein und antwortet in der selben Weise. Ebenso folgt er Manfred auch nach, als dieser das Gespräch wieder eine ernsthafte Richtung lenkt. Es wäre für ihn ein leichtes zu erraten, daß Manfred im Moment über seine Selbstverortung in der Dimension von Weiblichkeit und Männlichkeit nachdenkt. Vielleicht möchte er gerne wissen, ob Andreas ihn für eine Tunte oder für einen Kerl hält, aber er fragt nicht danach, und Andreas sagt es ihm auch nicht. Mit dieser Angelegenheit bleibt Manfred sich selbst überlassen.

Es gibt im Beobachtungsmaterial auch Beispiele ernsthafter Selbstklassifikationen, jedoch sind sie durchwegs selten, am seltensten wiederum in der Kategorie der Tunte. Die relativ deutlichste Aussage im Sinne einer solchen Selbstklassifikation enthält das folgende Beispiel:

Alfred: "Hast du eigentlich das Bundesheer schon gemacht, Hubert?"
Hubert weicht irritiert zurück und schüttelt den Kopf: "Nein. Die nehmen doch keine Vollschwestern!"
Alfred: "Das stimmt ja nicht! Die nehmen jeden, wurst ob der... homosexuell ist, oder..."
Hubert: "Aber mich nehmen sie nicht. Ich bin untauglich."
Alfred: "Aber wieso?"
Hubert: "Das hab ich schon so gemacht, daß die mich nicht nehmen."
Alfred: "Wieso? Willst du nicht zum Bundesheer? Das ist doch klaß, 8 Monate im Dreck wuzeln."
Hubert: "Ich bin ja nicht blöd. Da rinnt mir ja die Schminke herunter!" Geht mit erhobenem Haupt ab.

Es fällt auf, daß die Selbstklassifkation in diesem Beispiel gewissermaßen beiläufig, im Zuge der Erklärung eines anderen Sachverhalts fällt, daß Alfred sich scheut, seinerseits einen Begriff wie "Vollschwester" auf Hubert zur Anwendung zu bringen, und daß am Ende wieder einmal das unvermeidliche Spiel steht. Der Versuch, Fremd- und Selbstklassifikation, die in getrennten Interaktionen geäußert werden, in Beziehung zu setzen, etwa unter der Annahme eines stillschweigenden Konsenses, scheitert schon an der geringen Anzahl von Fällen, in denen dies überhaupt möglich ist.

Der unmittelbare Grund, warum die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage "Tunte oder Kerl" gescheut wird, liegt wohl in erster Linie an dem grundsätzlich vorhandenen Statusproblem. Jemandem allen Ernstes zu sagen, er sei eine Tunte, würde der Betreffende als Abwertung empfinden. Neben dem Risiko, sich unbeliebt zu machen, hätte der Initiator einer derartigen Konfrontation auch zu kalkulieren, daß er in Form einer gleichlautenden Replik - wie in spielerischer Form oft praktiziert - sehr rasch selbst zum Gegenstand der Verhandlung werden könnte. Angesichts der unklaren Unterscheidungskriterien wäre deren Ausgang keineswegs gewiß und könnte einen Widerspruch zu seinem Selbstverständnis und seinen Wünschen aufwerfen. Es ist eine Glashaus-Situation. Im schwulen Alltagswissen sind Zweifel an der Männlichkeit eines jeden Schwulen vorbereitet, gedeckt von gesamtgesellschaftlichen Zweifeln gleicher Art, sodaß unangreifbare Positionen nicht existieren. Zu bedenken sind dabei natürlich auch die Rahmenbedingungen der Subkultur, die sich primär aus dem Interesse ihrer Teilnehmer aneinander konstituiert, in der niemand zum Verweilen gezwungen ist, in der Interaktionen nur so weit belastbar sind, wie die Annehmlichkeiten gegenüber den Unannehmlichkeiten überwiegen.

Den Gesprächen der Teilnehmer ist also zu entnehmen, daß sie Tunten und Kerle für reale Erscheinungen halten - Anwesende ausgenommen. Ihre Gespräche führen in vielen Fällen zu einer übereinstimmenden Meinung, die unter dem Gesichtspunkt der Intersubjektivität eine "Tatsache" bildet, doch stellt dies für den Betreffenden noch lange keine Tatsache dar, da er nichts davon erfährt. Unter dem Gesichtspunkt, daß die Wirklichkeit der Alltagswelt vorrangig durch die Alltagssprache objektiviert wird, und dadurch für uns den Charakter eines festen Bodens und verläßlichen Bezugspunktes erhält (Berger/Luckmann, 1969), bewirkt diese Praxis, daß die Wirklichkeit der schwulen Welt merkwürdig lückenhaft ist - ein Phänomen, das in der Interpretation des Beobachtungsmaterials voll durchschlägt und geeignet ist, dem Forscher, und vielleicht auch den Lesern des Forschungsberichts, Kopfschmerzen und Gefühle der Desorientierung zu verursachen. Ich kann Fehler bei der Interpretation keineswegs ausschließen, aber der Eindruck der Unwirklichkeit, der sich bei der Besprechung der Vorgänge einstellt, scheint irgendwie im Stoff selbst seine Wurzeln zu haben und unter anderem ein Problem der Sprache zu sein. Für den wissenschaftlichen Beobachter ist es unproblematisch, die Alltagswelt mit ihren eigenen Begriffen zu erfassen, solange er sich auf einen in der Gesellschaft vorhandenen Konsens berufen kann. Es ist relativ unproblematisch, von Schwulen und Heteros zu sprechen, denn es gibt hinreichend viele Menschen, die sich konsensual diesen Kategorien zuordnen. Der Beobachter kann sich einigermaßen sicher fühlen, Beobachter und nicht Konstukteur von Wirklichkeit zu sein, wenn er seinerseits von Schwulen und Heteros spricht. In einem ähnlichen Sinn von Tunten und Kerlen zu sprechen, wäre jedoch höchst problematisch, da sich die Verständigung der Teilnehmer und der Konsens nicht auffinden läßt. Als Kategorien des Alltagwissens sind Tunte und Kerl gut faßbar, als soziale Kategorien verflüchtigen sie sich. Es ist mir gelungen, Gedankenfiguren zu finden, aber es gibt keine Person im Beobachtungsfeld, die ich im oben genannten Sinn zutreffend und guten Gewissens als Tunte bezeichnen könnte. Auch keinen Kerl.


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2.3 Diskriminierung

Eine wichtige Frage ist es, ob sich aus der Unterscheidung von Tunte und Kerl irgendwelche realen Folgen ergeben, etwa in dem Sinn, daß Personen aufgrund der heimlichen Überzeugungen der anderen eine Ungleichbehandlung erfahren Die größte Aufmerksamkeit gilt dabei dem Statusunterschied.

Xaver: "Wer hat morgen Bardienst?"
Fred: "Er heißt Rudi."
Xaver: "Welcher Rudi ist das?"
Fred: "Die Gräfin."
Alfred mischt sich ein: "So ein schmales Gesicht hat er, blond... Der war eh schön öfter da."
Xaver: "Gräfin. Das sagt eh schon alles."

Mehr will Xaver über Rudi nicht wissen. Dieses Desinteresse, ausgelöst durch einen Spitznamen, beinhaltet eine deutliche Abwertung. In einem anderen Zusammenhang, nämlich gewissermaßen umgekehrt, kommt die Statusdifferenz gegenüber Personen zum Tragen, wenn die Klassifikation als Mittel der Abwertung benutzt wird.

Sepp hört von der Tür her die Stimme Helmuts.
Er blickt auf und murmelt freudlos: "Die B´soffene ist da."

In Kenntnis des restlichen Beobachtungsmaterials zeigt sich, daß andere Teilnehmer Helmut für ausgesprochen maskulin, sogar für einen "Über-Macho" halten. Indem Sepp ihn hier zur "sie" macht, drückt er seine Geringschätzung gegenüber der Person Helmut aus und bedient sich der in der Klassifikation enthaltenen Wertung. Diese Art der Verwendung trifft aber nicht den Punkt um den es hier geht, sondern dokumentiert lediglich in beeindruckender Weise den Statusunterschied der beiden Kategorien.

In den beiden letzten Beispielen geht es um Abwesende. Die Interaktion unter Anwesenden sieht charakteristischerweise anders aus, denn wenn die ernsthafte Behandlung der Klassifikation tabu ist, kann unter Bezugnahme darauf keine offene Diskriminierung erfolgen. Es wundert daher nicht, daß sich in den Beobachtungsprotokollen keine derartigen Vorgänge erkennen lassen. Es gibt Situationen, in denen Teilnehmer mit mehr oder weniger offen gezeigter Ablehnung gegeneinander vorgehen, den Hintergrund bilden aber Differenzen anderer Art. Während ich in dieser Frage eher meinem Auge als Teilnehmer traue, läßt sich ein Umstand auch aus der systematischen Auswertung der Beobachtungen entnehmen: Diejenigen, die von ihrem Umfeld mit hoher Übereinstimmung als Tunte klassifiziert werden, stehen nicht am Rande, sondern eher im Mittelpunkt der Interaktionen, was sich unter anderem daran zeigt, daß sie in den Beobachtungsprotokollen sehr oft als Sprecher hervortreten und ihrerseits den größten Beitrag zum Klassifikationsaufkommen leisten. Von einer Art Ausschließung kann also nicht die Rede sein. Derartige Tendenzen äußern sich, wie so vieles, nur in spielerischer Form:

Es läutet an der Eingangstür. Gerald ruft dem Bardienst zu: "Wenn es ein Mann ist, laß ihn herein."

Der Scherz ist alt, und es vergeht vielleicht kaum eine Woche, ehe er von jemand anderem in der gleichen Situation wiederholt wird. Sein Reiz besteht darin, daß die Anwesenden, still für sich selbst oder durch Blickkontakt und Mimik verbunden, ihr Urteil bilden, wie die Entscheidung lauten würde, wenn sie zur Debatte stünde. Jedoch, sie steht nicht zur Debatte, eingelassen wird ohnehin jeder. Dies gilt nicht für alle Segmente der schwulen Subkultur, denn schwule Lederlokale setzen in jedem Fall ein entsprechendes Outfit voraus. Ob dort noch weitergehende Überprüfungen vorgenommen werden - und wenn, welche - kann hier nicht beantwortet werden, wäre aber ein interessanter Gegenstand für Untersuchungen. Aus der Perspektive der übrigen Szene stellt sich dies nicht als ein Problem der Ausschließung dar, denn der verbreiteten Meinung nach ist unter den "Lederschwestern" ein Kerl seltener anzutreffen als sonstwo.

Wenn es nach diesen Ausführungen noch irgendwo Ungleichbehandlung zu vermuten gäbe, dann am sexuellen Markt. Diesbezüglich sind der Beobachtung Grenzen gesetzt, jedenfalls in systematischer Form. Dem folgenden Beispiel kann entnommen werden, was wir bereits wissen: daß tuntiges Auftreten die Chancen tendenziell mindert, aber nur ein Gesichtspunkt neben anderen Kriterien der Attraktivität ist.

Gerald über Jakob: "Und was mich immer wundert, daß er innerhalb von zwei Minuten jeden Typen anbaggert, der an der Bar sitzt, da kannst du auf die Uhr schauen."
Andreas: "Und meistens nimmt ihn auch jemand mit."
Manfred: "Wie macht der das? Das würde ich gerne wissen!"
Andreas: "Naja, fesch ist er ja."
Manfred: "Aber tuntig."
Andreas: "Ja, aber ein liebes G´sichterl hat er schon."

Eine geringschätzige Behandlung von Angesicht zu Angesicht aufgrund dessen, daß jemand von anderen für eine Tunte gehalten wird, ist dem Beobachtungsmaterial nicht zu entnehmen. Gleichzeitig ist evident, daß die Kategorie der Tunte geringes Prestige genießt. Ein derartiger Widerspruch kann nur bestehen, wenn es gelingt, das Statusproblem von der Interaktion fernzuhalten, und das ist nur möglich, solange die Frage der Klassifikation nicht zum offenen Thema gemacht wird. In der Interaktion entwickeln die Teilnehmer ein Bestreben, eine nominelle Gleichberechtigung aufrechtzuerhalten. Das ist kein Spezifikum der Subkultur, es scheint an allen Orten freiwilliger, geselliger Zusammenkunft ein Interesse zu bestehen, die Interaktion nicht offen mit Statusdifferenzen zu belasten, obwohl sie natürlich im Bewußtsein der Teilnehmer bestehen (Goffman 1969, 1994). Das Statusproblem ist also nicht akut in dem Sinn, daß es sich an einzelnen Personen entlädt, doch es ist nicht aus der Welt geschafft. Das Wissen über seine grundsätzliche Präsenz übt einen Druck auf die Teilnehmer aus, und zwar auf zweierlei Weise. Erstens habe sie ihre Äußerungen gegenüber anderen in Hinblick auf ihr Konfliktpotential zu kontrollieren, zweitens haben sie zu bedenken, daß ihre eigene Selbstdarstellung von den anderen beurteilt wird, auch wenn die Urteile nicht offen ausgesprochen werden.


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2.4 Strategien

Aufgrund der Schwierigkeiten, Tunten und Kerle als Akteure in einem sozialen Feld aufzufassen, ist es angemessener, von Verhaltensstrategien zu sprechen: von der Strategie "Tunte", der Strategie "Kerl" und der Strategie "Mitte". Eine Verknüpfung zu Personen ist insofern gegeben, als manche der Teilnehmer die eine oder die andere Strategie sehr häufig anwenden. Damit ist auch die Verknüpfung zu den Klassifikationen hergestellt, die in ihrer Abwesenheit von den anderen Teilnehmern getroffen werden. Die folgende Darstellung schildert diese Strategien anhand der ausgeprägtesten Erscheinungsformen, die im Beobachtungsfeld zu finden sind, um die Unterschiede zu verdeutlichen. Die meisten Teilnehmer gehen wesentlich dezenter vor, sodaß die Unterschiede oft nur in Nuancen bestehen.

Die Strategie "Tunte" besteht darin, weibliche Selbstdarstellung zu pflegen. Es ist sehr schwierig, verbal einen Eindruck des körpersprachlichen Ausdrucks zu vermitteln. Die Bewegungen sind weich, grazil, überschwenglich und erwecken den Eindruck eines mit schwacher Muskelkraft versehenen Körpers. Vorbild für eine derartige Selbstdarstellung ist weniger die alltägliche Geschlechterwahrnehmung der Gegenwart, sondern eher das fragile und blumenhafte Modell der Weiblichkeit, wie es z.B. in älteren Spielfilmen zu finden ist. Nur wenige Teilnehmer pflegen diese Selbstdarstellung in Form eines authentisch erscheinenden Selbstausdrucks. Viel häufiger ist die spielerische Darstellung, die durch Übertreibung zugleich eine Distanzierung zum Ausdruck bingt.

Die Selbstdarstellung in der Strategie "Kerl" bedient sich einer betont maskulinen Körpersprache, die Selbstsicherheit und Dominanz vermittelt. Das Körpermodell, das in den Bewegungen zum Ausdruck gebracht wird, ist muskelbepackt. So wie die Körpersprache zielt auch die Beteiligung an den Interaktionen auf Dominanz ab: laut, provokativ, zwischen Kumpelhaftigkeit und unterschwelliger Aggressivität. Ein Vorbild für diese Art der Selbstdarstellung scheint weniger zeitlich als schichtspezifisch zuordenbar; man würde am ehesten an die männliche Selbstdarstellung in Arbeiterkneipen denken, wobei diese Schichtzuordnung nicht unbedingt den familiären Hintergründen der Teilnehmer entspricht, die diese Strategie anwenden - sofern mir dieser Hintergrund bekannt ist.

Die Strategie "Mitte" verzichtet auf demonstrativ feminine oder maskuline Selbstdarstellung und stellt einen Standard her, eine Art neutraler Umgangsform, von der sich die beiden exponierten Strategien abheben, und sie bietet sich als Ausweichstrategie im Falle einer Neuorientierung an. In der themenfokussierten Beobachtung wurde dieser Strategie zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, doch sie ist überaus wichtig und wird am häufigsten verwendet.

Zum Repertoire der Strategie "Tunte" gehört es, sehr viel mit Klassifikationen zu spielen. Das strategische Ziel ist es - umzusetzen freilich nur in spielerischer Weise - am unteren Ende der Statushierarchie zumindest nicht alleine zu sein.

Hubert, Willi und Erwin unterhalten sich an der Bar.
Jakob ruft von einem Tisch aus: "Was redest du denn da schon wieder, Hubert?"
Hubert: "Sei still, das ist ein Damengespräch!"
Jakob: "Ein was?"
Hubert: "Ein Damengespräch!"
Jakob: "Und was bin ich?"
Hubert zieht die Brauen hoch. "Lassen wir das lieber."

Den stategischen Endpunkt stellt der Zustand dar, daß es überhaupt keine Kerle mehr gibt und somit das Statusproblem entfällt, woraus sich dann freilich Probleme anderer Art ergeben: wer sollte unter diesen Umständen noch von sexuellem Interesse sein?

Erwin, betrunken, an der vollen Bar: "Hier sind ja keine Männer!"
Willi deutet auf einen glatzköpfigen Herrn: "Der! Das ist der einzige Mann hier."
Erwin: "Nein. Hier gibt es überhaupt keine Männer. Ich geh jetzt eh, ich kann jetzt sagen, was ich will." - laut, sodaß alle es hören können - "Hier gibt es überhaupt keine Männer!"

Demgegenüber besteht in der Stategie "Kerl" wenig Interesse, sich auf das Spiel mit Klassifikationen einzulassen.

Helmut kommt, in Begleitung von zwei jungen Burschen.
Michael mit (gespielt) freudiger Überraschung: "Die Frau Helmut!"
Helmut laut: "Beschwerden?". Er hängt seinen Mantel auf, ruft einem anderen an der Bar etwas zu, laut, rauh, lässig mit den Armen schlenkernd, breitbeinig und betont langsam im Gang.

Beim spielerischen Bearbeiten der Klassifikationsfrage hat die Strategie "Kerl" den Nachteil, daß es dabei nichts zu gewinnen gibt. Mit einer ernsthaften, beleidigten oder wütenden Klarstellung, wie sie gelegentlich vorkommt, kann zwar die Strategie durchgesetzt werden, aber ein solcher krisenhafter Einschnitt in der Interaktion wird von den anderen nachtragend vermerkt. Es bleibt also nicht viel übrig, als die Sache zu ignorieren oder mit gezwungenem Lächeln mitzuspielen. Ein weiteres Handicap ergibt sich aus dem Umstand, daß es immer erträglicher erscheint, von einer Person mit niederem Status scherzhaft herabgesetzt zu werden als von einer Person mit hohem Status. Die Strategie "Tunte" erlaubt einen freizügigeren Umgang mit den Empfindlichkeiten der anderen, da der Betreiber über den Verdacht erhaben ist, in herablassender Weise seinen eigenen Status demonstrieren zu wollen. Der Statusverlust, der mit dieser Strategie einhergeht, ist also mit einem Kommunikationsvorteil verbunden, während die Strategie "Kerl" dem Betreiber zwar Status verschafft, ihm aber zugleich Fesseln anlegt.

Hinsichtlich der Chancen am sexuellen Markt hat die Strategie "Tunte" wohl ohne Zweifel ernste Nachteile, denen nur der Gewinn gegenübersteht, den die Betreiber aus ihrer weiblichen Selbstdarstellung beziehen. Dieser Gewinn ist vorläufig ein Rätsel. In Bezug auf die Chancen im geselligen Bereich der Subkultur erweckt das Beobachtungsmaterial den Eindruck, daß die Betreiber der Strategie "Kerl" als Kommunikationspartner häufig unbeliebt sind. Hier spielen zu viele Faktoren mit, um einen verläßlichen Schluß zuzulassen, doch wäre es erklärbar. Die Strategie "Kerl" zwingt der Interaktion eine Konkurrenz um Männlichkeit und Dominanz auf, die die anderen offenbar nur in dem Ausmaß zu dulden bereit sind, wie sexuelles Interesse besteht. Anderenfalls erscheint das eher lästig.

Max: "Ist der Helmut, der Arsch, noch da?"

Nachdem es nicht als abgemachte Sache gelten kann, wer eine Tunte und wer ein Kerl ist, kann von niemandem erwartet werden, sich an gegenständliche Übereinkünfte gebunden zu fühlen, die er sie nicht kennt. Es gibt in diesem Sinn keine Verpflichtung in eine Rolle. Von der Einschränkung abgesehen, daß die Statusverhältnisse und die Chancen am sexuellen Markt einen Druck in Richtung Männlichkeit erzeugen, stehen die Strategien zur freien Disposition.

Andreas zu Karli: "Die Gigi, die ist ja jetzt als Mann unterwegs - ich weiß nicht, ob du sie..."
Karli: "Ich kenn sie, ja."
Andreas: "Und sie hat gesagt, als Mann streitet sie nimmer. Und was war los? Gestritten haben sie, und eine Schlägerei hat es gegeben. Ich hab gesagt: 'Ich hab gedacht, als Mann streitest du nimmer?! Was ist jetzt?!'"

Zwar bleibt Gigi für Andreas weiterhin "die Gigi", aber er denkt nicht daran, ihr Recht in Frage zu stellen, auf eigenen Entschluß von nun an "als Mann" unterwegs zu sein. Ein derartiger Entschluß erscheint kaum bemerkenswert, nicht besorgniserregend und in keiner Weise erklärungsbedürftig, solange er nicht in eine Schlägerei mündet. Der hier zur Interpretation gewählte Begriff der Strategie, anstatt einer Personendefinition, wird erst sinnvoll durch die Möglichkeit, die eigene Selbstdarstellung - vielleicht auch die eigene Selbstauffassung - an aktuelle Ziele und Situationen anzupassen. Proklamierte Enscheidungen, wie im letzten Beispiel, sind eine absolute Ausnahme, in der Regel erfolgen derartige Anpassungen eher launenhaft und situationsspezifisch. Ein Teilnehmer, der bei seinen Besuchen an Wochentagen die Strategie "Tunte" bevorzugt, kann am Wochenende, wenn im Keller die Diskothek geöffnet hat, mit Dreitagesbart und Lederjacke die Strategie "Kerl" oder "Mitte" einschlagen, die in Hinblick auf Sexualkontakte erfolgversprechender scheint. Ein Teilnehmer, der nach dem Muster der Strategie "Mitte" an der Bar sitzt und sich unauffällig mit den anderen unterhält, kann durch das Eintreffen eines Bekannten plötzlich zu einem Strategiewechsel bewogen werden, sodaß in der Folge beide die Strategie "Tunte" betreiben und einander darin unterstützen. Ein Teilnehmer kann sich mit Hilfe der Strategie "Mitte" längere Zeit hindurch bemühen, die Aufmerksamkeit eines anderen zu erringen, und am Ende mehr Gefallen daran finden, die kommunikativen Vorteile der Strategie "Tunte" zu nutzen, um ihn mit feiner Bosheit für seine Unaufmerksamkeit zu strafen und als Sexualobjekt zu entwerten.

Begünstigend für die wechselhafte Wahl von Strategien wirkt der Umstand, daß die Interaktionen nicht in einer geschlossenen Gruppe stattfinden, sondern in ständig wechselnden Zusammensetzungen, mit bekannten und unbekannten Personen, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Vor allem aber sind es stillweigende Regeln der Interaktion, die das möglich machen. Deren wichtigste ist es, die Frage der Klassifikation nicht ernsthaft und offen auszuhandeln, einhergehend mit dem Bestreben nach nomineller Gleichberechtigung und dem Verzicht auf Kritik hinsichtlich der Strategiewahl anderer.

Bereits in der Einleitung wurde darauf hingewiesen, daß der verallgemeinerbaren Aussagekraft der in einem so kleinen Feld gewonnenen Ergebnisse zu mißtrauen ist. Diese Warnung muß hier wiederholt werden. Während in Bezug auf das Alltagswissen noch mit etwas Plausibilität angenommen werden kann, daß es übergreifend transportiert wird, können Regeln der Interaktion in anderen Segmenten der Subkultur völlig anders aussehen und einen anderen Umgang mit der Differenz zur Folge haben.


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2.5 Spiele

Die Interaktionen lassen sich unter dem Gesichtspunkt der Strategiewahl einzelner Personen verfolgen, doch auch die Interaktionen selbst weisen gewisse wiederkehrende Muster auf, die sich in Formen unterscheiden lassen. Diese sind weniger von theoretischem als von deskriptivem Interesse, ich ordne sie in spielerische Verhandlung, Spielrollenspiel und Stegreiftheater.

Den Auftakt zur spielerischen Verhandlung bildet häufig eine scherzhaft ausgesprochene und auch so verstandene Klassifikation:

Mario betritt das Lokal.
Hubert laut: "Die Bäcker-Marie!"
Mario grinst ihn kurz an und geht aufs WC.

Wird nichts erwidert, dann ist die Sachen auch schon vorbei. Es kann aber auch gekontert werden:

Martin erzählt, daß er eine Partnerschafts-Annonce in die Zeitung gesetzt hat.
Gerald: "Stute sucht Reiter?"
Martin: "Nein. Ich bin ja nicht so eine Schlampe wie du!"
Gerald: "Ja, natürlich. Und im Darkroom sucht sie die Schillinge am Boden, die was ihr hinuntergefallen sind."
Martin: "Ich heiße ja nicht Geraldine!"

Gelegentlich entwickeln sich daraus auch längere Sequenzen unter Beteiligung mehrerer Personen:

An der Bar sitzen Gerald, Michael und Dieter. Hinter der Bar steht Andreas als Kellner. An einem der Tische sitzen Manfred und Viktor. Manfred rekelt sich lasziv im Lehnstuhl. Gerald dreht sich um und sieht ihm zu.
Gerald: "Geh, Andreas, gib ihm doch ein goldenes Sliperl, damit er eine Show machen kann."
Andreas: "Was soll ich ihm geben?"
Gerald: "Ein goldenes Sliperl. Damit er eine Show machen kann."
Andreas: "Wer soll eine Show machen - der Viktor?"
Gerald: "Nein, der Manfred!"
Andreas: "Ah... ah! Die Mimi meinst du! Die Mimi! Ja freilich - was soll denn das für eine Show werden?"
Gerald: "Was weiß ich - eine One-man-Show."
Andreas: "Nein, eine One-man-Show wird das sicher nicht. Eher eine One-women-Show."
Manfred: "Was?! Ich bin ein Mann!"
Andreas lacht. "Ja, das merkt man, wenn du so herumschwuchtelst."
Manfred: "Pha! Ich bin keine Schwuchtel!"
Dieter mischt sich ein: "Ja, und dann tanzt du so:" - imitiert einen hüftschwingenden Tanz.
Manfred: "Ich bin schwul, aber keine Schwuchtel! Und du red nicht! Du bist ja die größte Tunte!"
Kurze Pause.
Gerald: "Wen meinst du denn jetzt?" - lacht - "Da sitzen drei Leute an der Bar, und alle haben sich jetzt umgedreht!"
Manfred: "Sie da mein ich! Die Blaue da!" Er deutet auf Dieter, der einen blauen Pullover trägt.

In Anbetracht des Umstands, daß in diesem letzten Beispiel alle Merkmale einer offenen Verhandlung gegeben sind, könnte man sich fragen, ob hier überhaupt gespielt wird. Das Protokoll vermittelt den nonverbalen Ausdruck sehr schlecht: es wird gegrinst und gelacht, und durch Unangemessenheit von Lautstärke und Tonfall der Unernst signalisiert. Trotzdem könnte immer noch der Verdacht bestehen, daß die spielerische Form nur als Verkleidung für ernsthafte gemeinte Inhalte dient. Die statistische Auswertung des Beobachtungsmaterials stützt diesen Verdacht nicht. Spielerische Klassifikationen weisen keinen inhaltlichen Zusammenhang zu ernsthaften Klassifikationen auf, das heißt, ihnen ist keineswegs das zu entnehmen, was die Teilnehmer bei anderen Gelegenheiten ernsthaft äußern. Es existiert kein Code, der es erlauben würde, aus Wortmeldungen systematisch einen ernsthaften Gehalt zu extrahieren. In einem weniger spezifischen Sinn ist es aber sicherlich der Fall, daß die Teilnehmer auf diese Weise ihre Aufmerksamkeit als Beobachter zu erkennen geben und die anderen dazu nötigen, ihrer Selbstdarstellung eine entsprechende Aufmerksamkeit zu widmen. Daneben geben solche Wortwechsel auch Gelegenheit, das ansonsten blockierte Interesse an der Besprechung ungeklärter Verhältnisse spielerisch zu entladen. Vielleicht gewinnen die Teilnehmer dabei auch eine entmutigende Ahnung, was auf sie zukäme, wenn es ernst zuginge.

Das spielerische Verhandeln ist keineswegs die einzige Spiel-Art. Betrachten wir die folgende Interaktionssequenz:

Rudi, an diesem Tag Kellner, bewegt sich hüftschwingend zur Musik.
Gerald: "Sei ein bißchen männlicher, Rudi!"
Rudi erstarrt in der Bewegung, dreht den Oberkörper herum und mustert Gerald mit hochgezogenen Brauen von oben bis unten. Pikiert, mit hoher Stimme: "Wie bitte?"
Gerald: "Nimm dir ein Beispiel an Hubert!"
Hubert hebt die Hände, kippt sie grazil aus den Handgelenken nach hinten, und läßt weich den Kopf in den Nacken fallen.
Gerald: "Nimm dir ein Beispiel an mir! Hier! Das ist ein Mann!" Er senkt den Kopf, ballt die Fäuste, pendelt mit dem Oberkörper wie ein Boxer und rudert mit den Oberarmen.
Rudi stößt ein prustendes Lachen aus, löst sich aus seiner Erstarrung und fährt fort, hüftschwingend hinter der Bar zu tänzeln.

Anders als bei der spielerischen Verhandlung geht es hier nicht so sehr um Behauptung und Gegenbehauptung in der Frage der Klassifikation, sondern eher um ein reines Rollenspiel mit körpersprachlichen Ausdrucksmitteln. Der spielerische Charakter wird durch Übertreibung verdeutlicht. Neben anderen denkbaren Nutzen für die Teilnehmer haben Spiele dieser Art vermutlich auch einen entspannenden Effekt. Bestünde der schwule Alltag einzig darin, daß Männer mittels männlicher Selbstdarstellung männliche Konkurrenz um die Gunst anderer Männer austragen, wäre er vermutlich schwer zu ertragen. Die Spiele persiflieren diese Bemühungen, die Kontrolle der Selbstdarstellung, sowie das Faktum gegenseitiger Beobachtung. Spielerisch nimmt die Situation den Charakter weiblicher Konkurrenz um Männer an - die es am Ende gar nicht gibt. Derartige Rollenspiele können unterschiedlich lang sein, oft bestehen sie nur aus einem einzigen Beitrag, wenn keiner der anderen Teilnehmer darauf einsteigen will:

Gerald, Andreas und einige andere reden über Werbespots im Fernsehen.
Gerald: "Mir gefällt der eine, wo diese hübsche junge Frau mit dem Aufzug fährt."
Robert, der gerade vom Klo zurückkommt, mit gehauchter Stimme: "Ihr redet von mir?"
Es geht keiner darauf ein.

Bei seltenen Gelegenheiten können sich jedoch auch sehr lange, von einer durchgehenden Eigendynamik bestimmte Interaktionen ergeben, die ich als Stegreiftheater bezeichne. Dabei nehmen zwei Teilnehmer es auf sich, in der Rolle der gespielten Tunte für die Unterhaltung der anderen zu sorgen und sich im Schutz ihrer Rollen allerlei Frechheiten mit dem Publikum zu erlauben. Es ist leider sehr schwer, einen Eindruck derartiger Interaktionen zu vermitteln, sodaß hier keine Beobachtungsbeispiele gegeben werden.

Eine Weiterführung der Spiele in organisierter Form sind Kostümfeste und Travestieshows. Sie sind durch ihren Veranstaltungscharakter vom Alltag abgesetzt und werden hier nicht näher behandelt. Das Thema der spielerischen Verwandlung schließt freilich nahtlos an die Spiele des Alltags an, und so wie bereits in der Untersuchung schwulen Alltagswissens läßt sich feststellen, daß mit zunehmender Entfernung von den alltagspraktischen Gesichtspunkten ein im Hintergrund stehender Kontext der Geschlechter deutlich wird. Travestie handelt nun einmal nicht von Tunte und Kerl, sondern von Frau und Mann. Bei den zuletzt zitierten Beobachtungsbeispielen des Rollenspiels steht Vorder- und Hintergrund gewissermaßen genau in Deckung: es läßt sich nicht klar entscheiden, mit welcher Differenz hier gespielt wird, es fällt das eine mit dem anderen zusammen.

Die Darstellung des empirischen Teils der Untersuchung ist nun beendet. Sie hat sich auf den methodischen Kern der Untersuchung beschränkt, nämlich die teilnehmende Beobachtung. Die wichtisten Ergebnisse können kurz so zusammengefaßt werden: Die Kategorien von Tunte und Kerl sind ein alltagspraktisches, kognitives Orientierungsschema, das nicht in eine soziale Ordnung mündet. Die Frage der Klassifikation wird nicht gemeinsam geklärt und in irgendeiner Form verbindlich gemacht, die Verhältnisse bleiben offen, die Selbstdarstellung ist wählbar. So sehr das Konzept von Tunte und Kerl auf den ersten Blick auch an die Geschlechterkategorien erinnert, in der Alltagspraxis setzt sich diese Parallele nicht fort, denn im Gegensatz zu den Geschlechtern gibt es kein Reglement, das die Zugehörigkeit in die eine oder andere Kategorie regelt, und folglich auch keine an die Zugehörigkeit gebundenen verpflichtenden Erwartungen. Stattdessen gibt es Spiele, in denen das Thema behandelt wird, wobei sich in zunehmender Entfernung zu alltagspraktischen Gesichtspunkten eine Verschiebung der Inhalte in Richtung auf die Geschlechterdifferenz beobachten läßt.


Inhaltsübersicht

  Einleitung
1. Schwules Alltagswissen
1.1 Begriffe und ihre Ordnung
1.2 Das Bild von Tunte und Kerl
1.3 Unterscheidungsrelevanz und Status
1.4 Alltagstheorien und Anwendungsprobleme
1.5 Praktische und phantastische Konzepte
2. Schwule Alltagspraxis
2.1 Interaktionsformen
2.2 Ernsthafte Verhandlung
2.3 Diskriminierung
2.4 Strategien
2.5 Spiele
3. Erklärungssuche
3.1 Bestehende Thesen
3.2 Kindheit, Geschlecht, Begehren
3.3 Erotische Interaktion
3.4 Erotische Interaktion und Gesellschaft
3.5 Schlußfolgerungen
4. Forschungsmethode
4.1 Teilnehmende Beobachtung
4.2 Befragung
4.3 Forschungsprozeß
  Literatur
 
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